Meister der Dunkelheit: Ralf Rothmann Foto: imago/Gerhard Leber

Die neuen Erzählungen von Ralf Rothmann sind düster. Umso heller strahlt das Licht ihrer Schönheit.

Stuttgart - Im Untergrund lichtloser Welten ist der Autor Ralf Rothmann zu Hause. In seiner Ruhrpott-Trilogie hat er die Wahrheit aus den verborgenen Schächten eines vom Bergbau geprägten Milieus zu Tage gefördert. Und zu den verblüffendsten Eigenschaften seines erzählerischen Handwerks gehört die Gabe, eine bis ins feinste Detail erfasste realistische Szenerie durchscheinend werden zu lassen für die großen Fragen, die einer anderen Sphäre zugehören als Kohlestaub, Schnapsfahnen und prügelnde Eltern: Schuld, Reue und Erlösung.

In einer der Erzählungen seines neuen Erzählbandes „Hotel der Schlaflosen“ kommt es zum unverhofften Wiedersehen eines Bestatters mit seinem abwesenden Vater, der als junger Mann in einer Zeche verschüttet wurde. Als vom Wodka gezeichneter Greis kann er nun endlich das Verhältnis mit seinem von Kupfersulfat und Vitriol jugendlich konservierten Erzeuger klären.

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In den letztenRomanen ist auch Ralf Rothmann in den Erinnerungsstollen seiner Familie gestiegen und hat dort die Geschichte seines Vaters geborgen, der in den letzten Kriegsmonaten in die Waffen-SS gezwungen wurde. Nun begegnet man ihm wieder als einem von alltäglicher Arbeit unter Tage erschöpften Mann in Pyjamahose und Unterhemd, der sich mit Wildwestromanen aus der mühseligen Alltags-Tristesse fantasiert. Bis da eines Tages dieser barfüßige Mann in einem gestreiften Morgenmantel ihm und seinem Sohn den Weg versperrt, als wäre man nicht im Ruhrgebiet, sondern in Texas. Wortkarg wie in einem Spagettiwestern löst der Vater das Problem. In literarischem Cinemascope rückt Rothmann sein Gesicht ins Bild, ein Lächeln wie ein „tief verschüttetes Glücksvorkommen, etwas Geheimes, das sich im richtigen Moment in Wohlwollen für alle und jeden verwandelte.“

Der Unmensch als Kenner

Doch solche Momente sind selten. In Geschichte und Gegenwart zieht es Rothmann eher auf die dunkle Seite. Was soll man von der humanisierenden Kraft der Kunst halten, wenn der Unmensch ein kultivierter Literaturfreund ist, der mit seinem misshandelten Opfer, bevor er es hinrichtet, Kennergespräche führt und sich eine Ausgabe seines letzten Buches blutig signieren lässt? Die Titelgeschichte erzählt von den letzten Stunden des Schriftstellers Isaak Babel, der von einem Schergen Stalins zusammen mit unzähligen anderen in jenem Hotel der Schlaflosen, in dem einst Tschechow während seiner Moskaubesuche abzusteigen pflegte, zu Tode gequält wird.

Dauer und Augenblick sind die Herausforderungen, an denen sich die Kunst eines Erzählers zeigt: im Vergrößern des richtigen Moments auf das Vorausliegende und Folgende einerseits, im Schrumpfen einer unübersehbaren Fülle auf jenen Satz, der alles zusammenfasst, andererseits. Und manchmal ist es nur ein Schritt ins Ungewisse hinaus, der beides buchstäblich ineinanderfallen lässt, wie in der ersten Geschichte. In ihrem haarsträubenden Schlussbild vollendet sich ein Leben, dessen Hoffnungen und Enttäuschungen jemand einmal so auf den Punkt bringt: „Wir verlieben uns in die wilden Maler, in die wahrhaftigen Sänger mit dem Heroin in den Adern, in die Dichter und die schönen Vagabunden, und wir heiraten Ärzte.“

Geschäftsführer der Traurigkeit

Rothmanns Erzählungen handeln von der Verwandlung süßer Jungs in „Geschäftsführer der Traurigkeit“ und von geprügelten Mädchen, denen der Schatten der Gewalt auf Katzenpfoten durch ihr ganzes Leben folgt. Und Schuld sind beileibe nicht immer nur die anderen, Schuld sind auch diejenigen, die hier Einblick in ihr Inneres gewähren, in dem ein kaltes Herz schlägt.

„Ob das Leben nicht wunderbarer ist, als wir erkennen können, ob es trotz Tod, Schmerz, Elend und dem ganzen Mist womöglich einen Heiligenschein hat“, sinniert eine junge Frau, an die ein Ich-Erzähler seine Unschuld verliert. Zum Wunder dieser melancholischen Augenblicksaufnahmen zählt, dass sie die Frage nicht nur in aller Dringlichkeit aufwerfen, sondern über der ganzen Dürftigkeit einer Welt von Handy-Läden und Drogerie-Discountern, Carports und Fertighäusern trotz allem etwas aufgehen lassen, was man vielleicht nicht für einen Heiligenschein, wohl aber für ein Hoffnungszeichen halten könnte. Noch der dunkelste Stoff birgt die Möglichkeit eines geheimen Glücksvorkommens.

Ralf Rothmann: Hotel der Schlaflosen. Erzählungen. Suhrkamp Verlag. 206 Seiten, 22 Euro.