Jhumpa Lahiri zählt zu den wichtigsten Autorinnen der Gegenwart. Weitere interessante Neuerscheinungen finden Sie in unserer Bildergalerie. Foto: www.imago-images.de/Marco Destefanis/Verlag

„Wo ich mich finde“: Die Pulitzer-Preisträgerin Jhumpa Lahiri verzaubert die Banalitäten des Alltags in Prosaminiaturen von makelloser Schönheit.

Stuttgart - Vielleicht braucht es genau deshalb so etwas wie Literaturkritik: um dem Leser zuzuflüstern, auf jeden Fall dabeizubleiben, sich nicht abschrecken zu lassen, wenn er sich einem Buch konfrontiert sieht, das sich den gängigen literarischen Lusterweckungsverfahren auf den ersten Blick zu entziehen scheint.

Jhumpa Lahiris neuer Roman „Wo ich mich finde“ kann zunächst mit nichts aufwarten, als dem bestens beleumundeten Namen der 1967 geborenen indoamerikanischen Autorin und Pulitzerpreisträgerin, die in Deutschland vor allem mit ihrem Roman „Tiefland“ über zwei von den politischen Verhältnissen in Indien auseinandergetrieben Brüdern bekannt wurde. Ihr neues Buch verzichtet auf eine Handlung, auf unerhörte Ereignisse oder verdienstvolle diskursrelevante Themen. Es besteht stattdessen aus einer losen Sammlung von kleinen Alltagsszenen, die jede weltfromme Rund-und-bunt-Anmutung vermissen lassen und nur von einer vorwiegend eher schlecht gestimmten Ich-Erzählerin zusammengehalten werden.

Man folgt ihr auf den Wegen durch ihr Viertel, ins Büro, in den Supermarkt, auf die Piazza, ins Wartezimmer, ans Meer, ins Nirgendwo. Was sich aus diesen Splittern des Daseins zusammensetzen lässt, ist das Leben einer einsamen, nicht mehr ganz jungen Frau, die an der Universität einer ungenannt bleibenden italienischen Stadt lehrt, und sich offensichtlich dem Einfluss ihrer Eltern nicht zu entziehen vermochte. Hin und wieder kreuzen Bekannte ihren Weg, mit dem Mann ihrer besten Freundin hätte sie eine Geschichte haben können: „Ohne darüber zu sprechen, wissen wir jedoch beide, dass wir uns in ein falsches und zudem sinnloses Abenteuer stürzen könnten, wenn wir es nur wollten.“ Ihr Leben ist eine Transitzone, sie wird darin nicht heimisch, fühlt sich am Rand von allem.

Der Wohnsitz der Sprache ist im Nirgendwo

Doch genau in diesem aufmerksamen Beiseitestehen liegt der unwiderstehliche Reiz dieser Manifestationen eines verfehlten Lebens. In stiller Teilnahme beobachtet die Erzählerin das Treiben um sich herum, lauscht in die Gespräche von Glücklicheren oder Unglücklicheren hinein, ohne sie zur Geschichte zu verbiegen. Man könnte diese so authentisch wirkenden Notate für autobiografisch halten, stößt aber schon rasch darauf, dass sich nur wenig mit dem Leben der Autorin deckt. Auch wenn diese 2013 mit ihrer Familie von Brooklyn nach Rom zog, woher das linguistische Abenteuer rührt, dass die in London und Rhode Island aufgewachsene Tochter bengalischer Eltern ihre Bücher seitdem in der erst spät gelernten neuen Sprache Italienisch verfasst. So auch dieses.

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Was im Leben der Paare und Passanten, denen die Erzählerin für einige Schritte folgt, nicht zum Ereignis wird, wird zum Ereignis in der Sprache, die die Übersetzerin Margit Knapp ins Deutsche gerettet hat. Die nur wenige Seiten langen Vorstöße und Passagen sind genau inszenierte Prosamalereien, auf das wesentliche konzentriert, die in melancholischer Schönheit den Blick in die verborgenen Interieurs der Seele freigeben. In gestochen scharfen Wörtern wandelt sich das Zufällige, Banale, Bedeutungslose zu einprägsamen Vignetten des modernen Lebens. „Gibt es einen Ort, an dem wie nicht auf der Durchreise sind?“, fragt die Erzählerin. Er findet sich im Nirgendwo der Sprache, in den Begriffen, die das Leid, die Verwirrung und Entwurzelung benennen: „Das ist mein Wohnsitz, er besteht aus den Wörtern, die für mich die Welt bedeuten.“ Wer sich hier wiederfindet, wird es nicht bereuen.

Jhumpa Lahiri: Wo ich mich finde. Roman. Aus dem Italienischen von Margit Knapp. Rowohlt Verlag. 160 Seiten, 20 Euro.