Der neue Roman „Das Verschwinden des Josef Mengele“ von Olivier Guez Foto: Verlag

Französische Autoren waren schon immer etwas mutiger, wenn es um einen neuen Blick auf die Gräuel der NS-Zeit geht. Nun sorgt der neue Roman von Olivier Guez für Gesprächsstoff. Darf man einen der größten Scheusale der Menschheitsgeschichte als von Ängsten getriebenen Flüchtling zeigen? Guez tut es: „Das Verschwinden des Josef Mengele“.

Stuttgart - Josef Mengele ist als „Todesengel von Auschwitz“ und Verkörperung des Bösen längst in die zeitgenössische Mythologie eingegangen. Kultiviert, mit den Klassikern vertraut, wohlhabend, war der Sohn eines Günzburger Landmaschinenunternehmers ein deutscher Bildungsbürger wie aus dem Bilderbuch. Das war kein Hindernis für seine Karriere als Arzt und fanatischer „Rasseningenieur“, der an der Rampe von Auschwitz Zwillinge für seine bestialischen Menschenversuche selektierte, Augen an die Wand heftete und seine „Forschungen“ später in Südamerika an Kakerlaken fortsetzte.

Zweifellos gehört Mengele zu den Schwerstverbrechern des Naziterrors. Seine medizinischen Experimente an Opfern des KZ-Systems, vornehmlich an Juden, Sinti und Roma, noch dazu im weißen Kittel des Heilers und Menschenfreunds, gehören zu den größten Abscheulichkeiten jener Jahre und hätten zweifellos nach 1945 vor Gericht gehört. Mengele wurde auch als NS-Kriegsverbrecher gesucht, konnte aber aus einem US-Internierungslager entkommen und sich 1949 unterstützt von anderen Altnazis nach Südamerika aufmachen. Dass dieser „Fürst der europäischen Finsternis“ (Guez) dann 1979 beim Schwimmen in seiner Wahlheimat Brasilien ertrunken ist, wollte lange niemand glauben: Ein Badeunfall schien einfach zu banal für das Böse schlechthin, den meistgesuchten Mann seiner Zeit.

Immerhin, eine gewisse Strafe hatte Mengele schon zu Lebzeiten bekommen: Gehetzt von den Rächern des Holocaust und seinen eigenen Ängsten, zog er fast dreißig Jahre lang von Versteck zu Versteck; zuletzt lebt der einst so gepflegte, selbstsichere Mann verwahrlost, schlaflos und magenkrank in den Favelas von São Paulo; nur die Pflegerin Elsa, als ungebildeter Rassenmischling ein Albtraum Mengeles, erbarmte sich noch seiner. Dabei schien er zunächst ungeschoren davonzukommen. Lästige Fragen waren kaum zu befürchten. Die Aufarbeitung des Holocaust war im Argentinien Peróns und Evitas oder in General Stroessners Paraguay so wenig wie in Adenauers Deutschland ein Thema.

In Frankreich ist das Buch ausgezeichnet worden und ein Bestseller

1958 schien Mengele am Ziel: Er hatte einen gültigen Pass, eine neue Villa und eine neue Ehefrau, seine Schwägerin Martha; er besuchte Theater und Opern und reiste sogar heim nach Deutschland. Aber spätestens nach der Entführung und Hinrichtung seines Kollegen Eichmann – der SS-Chefplaner des Holocaust war 1960 in Argentinien aufgespürt, verschleppt und in Israel vor Gericht gestellt worden – war Schluss damit. Nazijäger wie Simon Wiesenthal, Fritz Bauer und der Mossad hatten auch Mengeles Witterung aufgenommen. Er musste sich verleugnen und verstecken, und das machte ihn noch reizbarer, depressiver und paranoider, als er ohnehin war.

In Frankreich, wo Bücher mit Nazithemen derzeit Konjunktur haben, wurde Olivier Guez‘ Tatsachenroman über „Das Verschwinden des Josef Mengele“ ein Bestseller und mit dem Prix Renaudot ausgezeichnet. Im Gegensatz etwa zu Jonathan Littells „Wohlgesinnten“ oder Eric Vuillards „Tagesordnung“ ist das Buch nur ein spannend erzähltes, aber formal konventionelles Biopic, eher journalistische Reportage als Roman. Aber gerade weil er sich nicht über das Monster erhebt, sondern es quasi von innen heraus beschreibt, gewinnt Olivier Guez‘ Recherche literarische Form und Dringlichkeit: Die nüchternen Fakten über Mengeles Leben und Verschwinden werden mit Selbstrechtfertigungen und larmoyanten Klagen aus seinen Tagebüchern und Briefen überblendet und unaufdringlich mythologisch überhöht.

Im Versteck geht es zu wie bei Woody Allen

Manche Episoden haben das Zeug zum Theaterstück. Als Mengele als „Hausfreund“ der alten Nazizeiten nachtrauernden Familie Stammer im brasilianischen Busch Unterschlupf findet, geht es oft zu wie in einer Nazigroteske von George Tabori oder Woody Allen. Während Mengele die geldgierige Sippe mit hitleresken Tischgesprächen langweilt, rächt sich Hausherr Geza mit Hitlerwitzen. Seine Frau Gitta fordert sexuelle Dienstleistungen für ihr Schweigen, der Sohn treibt den seltsamen „Onkel Peter“, der auf seinem Wachturm Wagner hört, mit Beatles-Musik und langen Haaren zur Weißglut.

In Guez‘ Buch verschwimmen die Grenzen zwischen Fakten und Spekulation, Zitat und literarischer Fiktion. Der Journalist kommt dem Monster selten so nahe, dass es schmerzhaft oder gefährlich würde. Aber er verknüpft souverän Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Mengeles, seine Verbrechen im KZ mit seinem Leben im Untergrund und seinem langsamen Verschwinden im Mythos. „Fühlt euch nicht sicher“, zitiert Guez den polnischen Autor Czeslaw Milosz, „der Dichter erinnert sich.“ Sein Buch steht an einem Wendepunkt der Auseinandersetzung mit Auschwitz: An der Schwelle der Augenzeugenschaft, wenn die letzten Überlebenden gestorben und die Familienerzählungen verblassen, können nur noch solche Tatsachen-Romane die Erinnerung wachhalten.

Olivier Guez: Das Verschwinden des Josef Mengele. Aus dem Französischen Von Nicola Deniu. Aufbau Verlag, Berlin. 224 Seiten, 20 Euro.