Heute herrscht wieder Normalbetrieb in der U- Bahnstation Maelbeek. Foto: AP

Auch ein Jahr nach den Anschlägen in Brüssel herrscht trotz zunehmender Normalisierung des Alltags auch noch eine gewisse Angst in der belgischen Gesellschaft – und die Politik scheint kaum dagegenzusteuern.

Brüssel - Ein Jahr danach. Die U-Bahn hält längst wieder in der Station Maelbeek im Europa-Viertel, die durch den Selbstmordanschlag am 22. März verwüstet wurde. Und in der Abflughalle im Flughafen Zaventem, wo etwa eine Stunde zuvor die Bomben explodierten, zeugen nur noch ein paar neue Fußbodenkacheln von den Brüsseler Anschlägen, bei denen 32 Menschen ermordet wurden und über 300 Menschen teils schwerste Verletzungen erlitten. Doch die Atmosphäre in der Stadt ist immer noch gezeichnet. Selbst Neuankömmlinge spüren es.

Mit Waffen im Anschlag in der Metro

Da ist die Dauer-Präsenz von Militär. Sie sind weniger geworden, derzeit tun noch etwa 1200 an den wichtigsten Bahnhöfen und öffentlichen Plätzen der belgischen Hauptstadt ihren Dienst. Die Soldaten sind auch nicht mehr vermummt wie in den ersten Wochen nach den Anschlägen. Doch wenn sie mit ihren schweren Waffen im Anschlag in voll besetzten Metro-Zügen patrouillieren, merken viele Pendler auf. Der Anblick von Soldaten im Inlandseinsatz vermittelt das Gefühl von Bedrohung. Die Terrorwarnstufe ist immer noch hoch. Immer wieder nicken Passanten den jungen Männern in Uniformen zu. Julien Prizzi, ein junger Polizeibeamter, drückt es gegenüber einem Reporter der belgischen Tageszeitung „Le Soir“ so aus: „Wenn man ihnen begegnet, fühlt man sich in Sicherheit. Aber man fühlt sich auch wie im Krieg.“

Flohmärkte wurden abgesagt

In den ersten Tagen danach war Brüssel wie gelähmt. Die Flohmärkte, eine der Passionen der Brüsseler am Wochenende, waren aus Sicherheitsgründen abgesagt. Das ist in der belgischen Geschichte bezeichnenderweise davor nur während der Besatzung durch Nazi-Deutschland vorgekommen. Handel, Restaurants und Hotels klagen zwar immer noch, aber die schlimmsten Verluste haben sie hinter sich. In Molenbeek, dem berüchtigten Molenbeek, weil etliche Attentäter hier aufgewachsen sind, werden weniger neugierige Touristen gesichtet als in den ersten Wochen. Das ist ein Verlust. Sie könnten sich ansonsten davon überzeugen, dass Molenbeek nur in wenigen Straßenzügen die gettohaften Züge trägt, für die es weltbekannt ist.

Unterschwellig ist die Angst noch da

Auf der anderen Seite der Bahnlinie ist Molenbeek dagegen ein gestandenes bürgerliches Wohnviertel, wo indes seit den Anschlägen die Immobilienpreise dramatisch eingebrochen sind. Das Café, wo Salah Abdeslam, einer der überlebenden Drahtzieher, mit seinen Kumpels Alkohol getrunken und Drogen konsumiert hat, ist immer noch verbarrikadiert. Es gibt Bestrebungen, es in einen Jugendklub umzuwandeln. Die meisten Bewohner in der Hauptstadt haben ihr Terror-Trauma wohl hinter sich. Es gibt zwar einige, die sich bis heute weigern, die U-Bahn zu benutzen. Aber angesichts des chronischen Dauer-Staus, des vielen Regens und der hügeligen Stadt war das Fahrrad für die meisten keine dauerhafte Alternative. Doch unterschwellig ist bei vielen die Angst noch da. Sie blitzt auf, wenn plötzlich ein Hubschrauber tief über der Innenstadt in der Luft steht. Manche Brüsseler werden sichtlich unruhig, wenn Menschen mit großen Koffern in die Metro steigen. Zumal, wenn es junge dunkelhäutige Männer sind. Bei aller Beklemmung, muss man aber wissen: Das Miteinander von Fremden im öffentlichen Leben ist in Brüssel grundsätzlich von mehr menschlicher Wärme geprägt als etwa in Berlin oder anderen Hauptstädten. Es wird mehr gelächelt, es gibt mehr freundliche Gesten. Nicht selten wünschen Fahrgäste beim Aussteigen dem Straßenbahn-Fahrer noch einen schönen Abend.

Rückzug ins Private

Ein Metro-Fahrer, Mauro Rocca, will beobachtet haben, dass die Freundlichkeit der Brüsseler seit den Anschlägen sogar zugenommen hat. „Mir ist aufgefallen, dass die Menschen heute uns, dem Personal im ÖPNV, mehr Zeichen der Sympathie entgegen bringen.“ Und wie sieht der Profi die Veränderungen im Zusammenleben der Menschen seit den Anschlägen? Der Soziologe Andrea Rea, Spezialist für die Beziehungen zwischen Ethnien, glaubt, dass die Anschläge den Trend der Menschen, sich ins Private zurück zu ziehen, noch verstärkt haben. Angesichts des Gefühls der Bedrohung durch den Terror handele es sich um eine Überlebensstrategie. „Je größer die subjektive Unsicherheit desto ausgeprägter ist der Rückzug ins Private“, sagt der Professor von der Freien Universität Brüssel (ULB) gegenüber „Le Soir“. Es gibt auch Hinweise, dass die Risse in der ohnehin zwischen Flamen und Wallonen zerklüfteten belgischen Gesellschaft, größer werden. So ging etwa ein Vorfall durch die nationale Presse, bei dem sich ein belgischer Standesbeamter weigerte, eine Trauung zu vollziehen, weil eine muslimische Braut sich ihrerseits geweigert hatte, ihm zuvor die Hand zu geben.

Bislang sind die Parteien im Wesentlichen der Versuchung widerstanden, aus den Anschlägen politisch Kapital zu schlagen. Der vorhandene Rassismus schlägt sich subtiler im Zwischenmenschlichen nieder. Andererseits unternimmt die Politik auch bislang keine großen Anstrengungen, die Gesellschaft wieder stärker zusammen zu bringen. Kürzlich wurden gerade einmal 800 000 Euro an Mitteln bereit gestellt, um das Wir-Gefühl der Belgier zu stärken. Der Soziologe Rea vermisst denn auch das Bekenntnis der Politik zu einer vielfältigen bunten Gesellschaft: „Die politisch Verantwortlichen schweigen.“ Seine Analyse: Sie machten sich mehr Sorgen um ihre Wiederwahl als darum, wie die belgische Gesellschaft in zehn oder zwanzig Jahren aussieht.