Zu allen Problemen, die der britische Premierminister hat, kommt der bittere Streit um die Brexit-Regeln für Nordirland – und erschwert einen EU-Kompromiss.
– Erst hundert Tage im Amt, sieht sich der britische Premier, Rishi Sunak, bedrängt an allen Fronten. Deprimierende Wirtschaftsprognosen, die Eskalation erbitterter Arbeitskämpfe und neue Skandale auf höchster Ministerebene setzen ihm zu.
Neuerdings haben seine Popularitätswerte einen Tiefststand erreicht. Und nun muss Sunak gar befürchten, dass ihm die Hardliner seiner Fraktion die Gefolgschaft verweigern wollen – und ihn wegen des Brexits zu Fall bringen könnten, wie sie es 2019 schon mit Theresa May taten.
Sunak verzichtet auf Drohgebärden
Auch konservative Kommentatoren spekulieren, dass ein ausreichend grosser Teil der Fraktion, der sich Boris Johnson zurück an die Tory-Spitze wünscht, Sunak in Sachen Nordirland-Protokoll auflaufen lassen könnte. Dieses Protokoll – ein Bestandteil des Brexit-Vertrags mit Brüssel – regelt unter anderem den Warenstrom aus England, Wales und Schottland nach Nordirland. Die betreffenden Waren unterliegen bei der dortigen Ankunft speziellen Kontrollen, weil laut Brexit-Vertrag Nordirland den Richtlinien der EU-Zollunion folgt.
Mit dieser Lösung hatte man seinerzeit den unbehinderten Warenverkehr in Irland selbst sichern, also eine neue EU-Außengrenze zwischen dem Norden und dem Süden der Insel verhindern wollen. Aber die größte Partei der Protestanten in Nordirland, die Partei der Demokratischen Unionisten (DUP), sieht im Nordirland-Protokoll eine unakzeptable Abspaltung der Provinz vom Rest des Vereinigten Königreichs.
Sie boykottiert aus Protest gegen das Protokoll seit dem Mai vergangenen Jahres Nordirlands Parlament und jegliche nordirische Regierungsbildung. Zur Bedingung für ihre Rückkehr an die Selbstverwaltung hat sie gemacht, dass Nordirland „genauso behandelt“ wird wie der Rest des Königreichs.
Kurioserweise war es Boris Johnson, der das Nordirland-Protokoll aushandelte und unterzeichnete – wiewohl er den Unionisten damals versichert hatte, Grenzkontrollen werde es keine geben, und er der EU zuletzt androhte, er werde das Protokoll ignorieren, wenn Brüssel sich Londons Vorstellungen nicht füge bei der praktischen Umsetzung.
Im Unterschied dazu hat Premier Sunak seit seiner Amtsübernahme im vorigen Oktober Drohgebärden vermieden und mit der EU eine gemeinsame Lösung auszuhandeln versucht, um Grenzkontrollen zu minimieren und andere Streitpunkte zu entschärfen. Diese Woche meldete Londons konservative Zeitung Times, Sunak habe sich mit Brüssel praktisch geeinigt auf einen Kompromiss.
Den Times-Informationen „aus Regierungskreisen“ zufolge sollen Warenströme aus Großbritannien nach Nordirland von der EU gemeinsam mit London künftig elektronisch überwacht werden und nur noch Waren, die zum Weitertransport in die Republik Irland – also in die EU – bestimmt sind, besonderen Kontrollen unterliegen.
Premier will in die USA reisen
Seit Veröffentlichung dieser Ideen haben beide Seiten nachdrücklich bestritten, dass sie bereits einen Durchbruch erzielt hätten. Und Unionisten und Tory-Hardliner ihrerseits haben die Informationen der Times als bloßen „Versuchsballon“ der Regierung abgetan und die beschriebenen Vorschläge verworfen. Die DUP verlangt weiter einen kompletten Verzicht aufs Nordirland-Protokoll.
Auch die Gruppe der Brexit-Fundamentalisten in der konservativen Unterhaus-Fraktion, die rund 50 Abgeordnete umfassen dürfte, stemmt sich gegen jeglichen Kompromiss, der „unsere nationale Souveränität beeinträchtigen“ würde. Diese Parlamentarier-Gruppe misstraut Sunak zutiefst und steht prinzipiell hinter Boris Johnson, von dem sie sich einen unnachgiebigen Kurs gegenüber der EU erhofft.
„Johnsons Fan-Club will Sunak aus dem Amt hieven“, hat es der prominente Tory-Kommentator Iain Martin, selbst ein Brexit-Befürworter, dieser Tage formuliert. Und die Gruppe sei durchaus groß genug, „um erneut einen Premierminister zu stürzen“.
Sunak ist in einer schwierigen Situation. Er will in Kürze nach Washington reisen und erwartet den US-Präsidenten Anfang April zu einem Gegenbesuch, zum 25. Jahrestag des nordirischen Karfreitags-Vertrags. Joe Biden hat aber deutlich gemacht, dass er nur kommen will, wenn sich London in Sachen Protokoll vorab mit Brüssel geeinigt hat.