Ein nahezu symbolisches Bild: Brüssel am 29. Januar 2020, Nigel Farage verlässt das Parlamentsgebäude der EU. Foto: dpa/Michael Kappeler

Sogar eingefleischte EU-Gegner sind unglücklich mit den Folgen des Brexits für Großbritannien. Hochfliegende Erwartungen haben sich nicht erfüllt. Stattdessen sieht man sich an allen Fronten vor immer neuen Problemen.

Kurioser könnte es kaum sein. Ausgerechnet Nigel Farage, der mehr als sonst jemand dazu beitrug, dass es zum Brexit kam, hat jetzt ein vernichtendes Urteil über die Folgen des britischen Austritts aus der EU gefällt.

Der langjährige EU-Gegner und frühere Vorsitzende der Unabhängigkeitspartei Ukip ist zu dem Schluss gekommen, dass sein Land „vom Brexit nicht wirklich profitiert hat, wirtschaftlich gesehen“. „Brexit has failed“, der Brexit habe sich leider als „Fehlschlag“ erwiesen, urteilt neuerdings Farage.

Nun meint Farage damit freilich nicht, dass man seinerzeit besser in der Europäischen Union geblieben wäre. Am Prinzip selbst, das er so vehement vertrat, ist für ihn absolut nichts falsch.

Die Schuld für das Misslingen des Projekts weist er ganz einfach der Tory-Regierung zu, die alles „miserabel abgewickelt“ habe. „Unsere Politiker sind genauso nutzlos, wie es die Kommissare in Brüssel immer waren“, findet er.

Statt mithilfe des Brexits die britische Wirtschaft anzukurbeln, habe eine hoffnungslose Regierungspolitik im Gegenteil „viele Unternehmen aus dem Land getrieben“. Und die Lage an den Grenzen habe sich auch nicht gebessert, was den Rekordzustrom an Fremden – diesmal von außerhalb der EU – betrifft: „Die Torys haben uns ganz schön im Stich gelassen. Sie haben uns vollkommen enttäuscht.“

Tatsächlich ist die Stimmung seit der Unterhauswahl von 2019, bei der Boris Johnson gelobte, den Brexit „endgültig über die Bühne zu bringen“, deutlich umgeschlagen. Wie Farage stoßen den meisten seiner Landsleute zunehmend die negativen Folgen auf, die die Abkehr von der EU Großbritannien eingetragen hat.

Den letzten Umfragen zufolge glauben inzwischen 59 Prozent der Briten, dass ihr Land heute „schlechter dasteht“ als vor dem EU-Austritt. Aber anders als Farage halten immer mehr den Austritt selbst für einen Fehler. Rund ein Fünftel der Wähler, die beim Referendum von 2016 für den Brexit stimmten, bereut diese Entscheidung offenbar neuerdings. Was kein Wunder ist: Denn keines der schönen Versprechen der Brexit-Kampagne, in der Johnson und Farage eine so zentrale Rolle spielten, hat sich erfüllt in den letzten Jahren.

Verheißen worden war den Wählern, dass ihr Land, aller EU-Fesseln entledigt, ein fantastisches neues Wachstum, einen regelrechten nationalen Aufschwung erleben würde. Dass zahllose Milliarden Pfund statt nach Brüssel ins eigene nationale Gesundheitswesen fließen würden. Dass ein Einwanderungsstopp für Kontinentaleuropäer zu höheren Löhnen bei den am schlechtesten bezahlten Briten führen würde. Dass die Lebenshaltungskosten sich nach einem EU-Austritt beträchtlich verringern würden. Und dass die Demokratie auf der Insel neu belebt würde, durch eine Rückkehr zu größerer nationaler Souveränität.

Stattdessen sind die Briten von einer Krise in die nächste geschlittert. Fünf Premierminister (derselben Partei) haben sie in sieben Jahren in No 10 Downing Street gesehen. Das Vertrauen in die Politik hat sich spürbar verringert. Und das Wirtschaftswachstum stagniert. Bei den Industrienationen der G7 findet sich Großbritannien auf dem letzten Rang. Generell hat es auf der internationalen Bühne eher an Einfluss verloren, als die gloriose neue Rolle zu finden, die Boris Johnson den Leuten einmal verhieß.

Im Land selbst haben sich die Reallohneinbußen vieler Jahre für Millionen Briten als verhängnisvoll erwiesen. Die Inflationsrate liegt höher als in vielen Ländern der EU. Die Zahl der Mittellosen wächst unentwegt. Sozialfürsorge und karitative Verbände können dem Andrang der Bedürftigen kaum noch gerecht werden. Das Gesundheitswesen, das durch den Brexit kuriert werden sollte, ist in einer Krise wie noch nie.

Und Londons unabhängiges Amt für gute Haushaltsführung hat einen Einbruch der Wirtschaftskraft um vier Prozent im Jahr prophezeit. Die Bank von England schätzt, dass der Wirtschaft durch den Brexit schon jetzt fast 30 Milliarden Pfund an Investitionen verloren gingen. Viele Unternehmen haben Konkurs gemacht, weil der Handel „nach Europa“ eingebrochen ist.

All dem zum Trotz besteht Premierminister Rishi Sunak darauf, dass der Brexit generell als „Erfolg“ zu werten sei und man nur noch ein bisschen mehr Zeit brauche, um die Früchte der neuen Unabhängigkeit zu ernten. Gefragt, worin denn die großen Errungenschaften des Brexits bestünden, hat Sunak letzte Woche etwas gequält erklärt, Bier zum Beispiel oder auch Hygieneartikel seien billiger geworden, weil man die Mehrwertsteuer jetzt in eigener Regie festlegen könne.

Auch in Sunaks eigener Partei regt sich Widerstand. Die Tory-Rechte fordert – wie Nigel Farage – sehr viel mehr Druck auf die EU, das sofortige Ende aller in Großbritannien noch gültigen EU-Bestimmungen, mehr Wirtschaftssubventionen, unverzügliche Steuersenkungen und zusätzliche scharfe Einwanderungsbeschränkungen. Wo moderate Torys für Kompromisse in Handelsfragen plädieren, verlangen ihre Kollegen von rechts außen strikte Unnachgiebigkeit.