Der 43-jährige Jan Marsalek wird seit drei Jahren mit internationalem Haftbefehl gesucht. Foto: imago/Sven Simon

Am bislang hitzigsten Tag des Wirecard-Prozesses geht es um einen Brief. Verfasst hat ihn der Rechtsanwalt von Jan Marsalek. Der flüchtige Ex-Vorstand teilt sich darin mit. Ist das ein Wendepunkt im Prozess?

Es wird schnell turbulent an diesem Morgen im unterirdischen Gerichtssaal der Justizvollzugsanstalt Stadelheim in München. Strafverteidiger schreien durcheinander, auch Richter Markus Födisch wird laut. Eine Staatsanwältin versucht, sich Gehör zu verschaffen. Zündstoff liefert ein achtseitiger Brief. Verfasst hat ihn Anwalt Frank Eckstein im Auftrag seines zweifelhaft prominenten und flüchtigen Mandanten Jan Marsalek. Dieser war einmal Wirecard-Vorstand und ist im Laufe des Prozesses immer mehr zum mutmaßlichen Haupttäter eines milliardenschweren Betrugs beim einstigen Dax-Konzern geworden. Offiziell bekannt ist der Inhalt des Briefes noch nicht. Aber je nachdem, wer ihn gelesen hat, tut man ihn als weitgehend belanglos ab oder aber stilisiert ihn zum Wendepunkt des Prozesses.

Die Verteidigung will den Brief verlesen lassen

„Wir stellen Antrag auf Verlesung des Briefes“, sagt Rechtsanwalt Alfred Dierlamm in einer Verhandlungspause. Er vertritt mit dem ehemaligen Wirecard-Chef Markus Braun den wichtigsten von drei Angeklagten. Denn für seinen Mandanten, der als mutmaßlicher Boss einer Betrügerbande auf der Anklagebank sitzt, könnte er Entlastendes enthalten.

Zugegangen ist der Brief vorige Woche dem Gericht und der Staatsanwaltschaft, einige Tage später auch den Verteidigern der drei Angeklagten, neben Braun auch der Ex-Chefbuchhalter von Wirecard, Stefan E., und Oliver Bellenhaus. Der war Statthalter des Konzerns in Dubai und fungiert im Prozess auch als Kronzeuge.

Laut Marsalek hat es das umstrittene Drittpartnergeschäft gegeben

Aus dem, was die Verteidiger zum Brief sagen, ergibt sich kurz gesagt folgendes Bild: Erstens sagt Bellenhaus in mehreren Punkten nicht die Wahrheit, was ihn als Kronzeugen unglaubwürdig macht. Zweitens hat es das Drittpartnergeschäft (TPA) wirklich gegeben. Das asiatische TPA-Geschäft ist jener sehr undurchsichtige Teil der Wirecard-Aktivitäten, die kurz vor dem Kollaps des Skandalkonzerns große Teile des gesamten Umsatzes und den kompletten Gewinn beigesteuert haben sollen. Zumindest war das in den Wirecard-Bilanzen so dargestellt. Ab hier gibt es zwei Wahrheiten.

Staatsanwälte, aber auch der Wirecard-Insolvenzverwalter Michael Jaffe sagen, das asiatische TPA-Geschäft hat es nie gegeben. Es sei vorgetäuscht und Teil eines riesigen Schwindels gewesen, den Braun mit seinen Komplizen inszeniert hat. Auch 1,9 Milliarden Euro Treuhandguthaben im Zusammenhang mit dem TPA-Geschäft hätten folglich nie existiert. Diese Summe hätte sich auf Wirecard-Treuhandkonten befinden sollen. Bei der Pleite waren sie leer.

Zu seiner eigenen Rolle schweigt Marsalek im Brief

Eine andere Wahrheit zeichnen Braun und dessen Verteidiger. Demnach hat es sowohl TPA-Geschäft als auch Treuhandmilliarden gegeben. Das Geld sei aber von einer Bande um Marsalek und dem vermeintlichen Kronzeugen Bellenhaus geraubt worden – und zwar ohne dass Braun davon wusste. Der Hauptangeklagte sei damit nicht Täter, sondern Opfer. Vorige Woche hat Dierlamm einen sehr umfangreichen Beweisantrag mit mehr als 400 Einzelbeweisen gestellt, der das belegen soll.

In diese Situation platzt nun der Brief von Marsaleks Anwalt. Eigene Schuld gesteht der flüchtige Ex-Vorstand darin nicht ein, sagen alle, die das Schriftstück gelesen haben. Zu seiner eigenen Rolle schweigt Marsalek. Als Anlass des Schreibens wird im Brief der bisherige Prozessverlauf und ein jüngster Sachstandsbericht von Jaffe genannt. Der Insolvenzverwalter betont darin, eindeutig beweisen zu können, dass es die Treuhandmilliarden nie gegeben hat, weshalb sie auch nicht geraubt werden konnten.

Kann Markus Braun nun auf Freispruch hoffen?

Dem tritt Marsalek in seiner ersten Wortmeldung nach drei Jahren Schweigen und Flucht entgegen: Das TPA-Geschäft habe es sehr wohl gegeben. Belege dazu liefert er nicht, sagen Leser des Briefs übereinstimmend. Hätte es die strittigen Geschäfte gegeben, wäre es der Todesstoß für diesen wesentlichen Teil der Anklage und Braun könnte auf Freispruch hoffen. Das würde umso mehr gelten, wenn Bellenhaus als der Lügner überführt werden könnte, zu dem Marsalek ihn im Brief stempelt. „Die Lügen von Bellenhaus werden ganz konkret beschrieben“, betont Braun-Verteidiger Dierlamm.

Richter Födisch und Staatsanwältin Inga Lemmers sehen das ganz anders. „Einen krassen Gegensatz zu den Einlassungen von Herrn Bellenhaus kann ich schon mal gar nicht erkennen“, sagt Födisch. „Vor harten Fakten strotzt das Scheiben nicht“, findet auch Lemmers. Zudem sei Marsalek ein international gesuchter Verbrecher. Was so einer sagt, müsse man in puncto Glaubwürdigkeit nicht besonders hochhängen, soll das wohl heißen.

Hitziger Disput zwischen Richter und Verteidiger

Als Födisch sagt, er sehe kaum eine Möglichkeit, das Schreiben ins Verfahren einzuführen, also als Beweismittel zuzulassen, explodiert Dierlamm. „Wollen Sie das im Schreibtisch verschwinden lassen?“, tobt der Verteidiger. Födisch bewege sich hart an der Grenze zur Befangenheit. Ein hitziger Disput zwischen Verteidiger und Richter folgt, in den sich noch andere Prozessbeteiligte einschalten. Für ein paar Augenblicke ist man als Beobachter froh, dass zwischen allen Beteiligten diverse Tischreihen liegen, die Handgreiflichkeiten erschweren. Warum Marsalek sich über seinen Anwalt überhaupt zu Wort gemeldet hat, fragt im Tumult niemand.

Authentisch – aber auch wahr?

Lebenszeichen
Seit drei Jahren ist Jan Marsalek als Hauptverdächtiger im Wirecard-Betrugsskandal untergetaucht. Nicht einmal, ob er überhaupt noch lebt, wusste man zuletzt. Jetzt hat er sich spektakulär zu Wort gemeldet über ein Schreiben seines Münchner Rechtsanwalts. Menschen, die den Brief gelesen haben, halten ihn für authentisch.

Motiv
Ob auch stimmt, was er zu sagen hat, ist freilich eine andere Frage. Misstrauisch macht, dass sich mit dem 43-Jährigen ein Flüchtiger meldet, der bishe alles getan hat, um unsichtbar zu bleiben. Zweitens spricht er nicht in eigener Sache zu seiner Schuld oder Unschuld. Er will sich auch nicht stellen. Was aber ist dann seine Motivation? Marsaleks Brief kommt jedenfalls zu einem Zeitpunkt, wo die Verteidigung des Hauptangeklagten Markus Braun besonders energisch bemüht ist, diesen als Opfer und nicht als Täter dazustellen. Zu Brauns Verteidigungsstrategie passt der Brief perfekt.