Ein Anti-Brexit-Aktivist in London: Bis zum EU-Austritt sind es nur noch gut zwei Monate. Foto:  

Viele Brexit-Befürworter glauben den Warnungen vor den Konsequenzen einer abrupten Abkoppelung von Europa bis heute nicht. Doch immer mehr Großunternehmen und Banken machen ihre Drohungen wahr und schließen britische Niederlassungen.

London - Für die Brexit-Hardliner war es nichts als „Angstmacherei“, mit der Pro-Europäer die Briten zu schrecken suchten. Und viele Brexit-Wähler glauben den Warnungen vor den Konsequenzen einer abrupten Abkoppelung von Europa bis heute nicht. Dabei mehren sich die Zeichen einer für Großbritannien bedrohlichen Entwicklung.

Während das Land ohne alle vertragliche Absicherung aufs Exit-Datum zu schlittert, hat der „Brexodus“ allen Ernstes begonnen. Nicht nur kehren immer mehr EU-Bürger, die zum Beispiel das britische Gesundheitssystem jahrelang mit in Gang gehalten haben, ihrer einstigen Wahlheimat den Rücken – mit ernsten Folgen für die Patientenversorgung im Land. Auch immer mehr Großunternehmen und Banken machen ihre Drohungen wahr und schließen britische Niederlassungen.

Mit großer Sorge, hat die Geschäftsführerin des Britischen Industriellenverbandes CBI, Carolyn Fairbairn, diese Woche in Davos erklärt, verfolge die Welt, wie ihr Land sich mit dem Brexit abquäle. „Manche zweifeln schon am globalen Gütezeichen des Vereinigten Königreichs“, meinte Fairbairn. Hier werde „ein Schaden angerichtet, der nicht wieder gut zu machen sein wird“. Vor allem müsse man jetzt umgehend einen „No-Deal“-Brexit ausschließen: „Sonst werden weiter Jobs und Investitionen bei uns im ganzen Land verloren gehen.“

Sony verlegt sein europäisches Hauptquartier

Die Sorge ist durchaus begründet. Viele internationale Finanzinstitute haben bereits Geschäftszweige ausgelagert. In Dublin, Paris, Frankfurt, Luxemburg belebt sich das Geschäft. Autokonzerne haben „Produktionspausen“ und Stellenabbau in Großbritannien angekündigt. Einige haben offen damit gedroht, bei Chaos an den Grenzübergängen ihre Produktion ganz einzustellen, „wenn es zum Schlimmsten kommt“. Just hat der Elektronik-Riese Sony gemeldet, dass er sein europäisches Hauptquartier nach Amsterdam verlegt: Goodbye, London. Panasonic ist Sony auf diesem Weg voraus gegangen. Die Großbank HSBC hat sich als neuen Europa-Standort Paris ausgeguckt. Und Barclays und Bank of America wollen nach Dublin ziehen. Hunderte anderer Firmen aber wollen beiden Marktführern folgen, um nicht „von der EU abgenabelt“ zu sein.

Auch EU-Ämter sind ja aus London verschwunden. Die Europäische Arzneimittel-Agentur ist nach Amsterdam abgewandert. 900 Arbeitsplätze zogen mit. Die Europäische Banken-Aufsichtsbehörde ist nach Paris verlegt worden. Staatspräsident Emanuel Macron hat auswärtigen Geschäftsführern in Versailles gerade die Vorzüge einer Ansiedlung in seinem Land geschildert. „Wählt Frankreich!“ war die Parole seiner Veranstaltung.

Airbus ist eines der größten Unternehmen in Großbritannien

Unterdessen suchen Firmen aller Art in Großbritannien verzweifelt Vorratslager mit Fertigprodukten oder Fabrikationsteilen anzulegen. Beim Autokonzern Bentley stöhnt man über Brexit als den „Killer“ aller Profitabilität. Gerade eben schockierte Airbus die Briten mit der Erklärung, das Unternehmen könne sich ganz aus dem Vereinigten Königreich zurück ziehen, falls es in neun Wochen zu einem „No-Deal“-Brexit komme. „Täuscht euch nicht, Leute“, sagte Airbus-Generaldirektor Tom Enders. „Es gibt da draußen genug Länder, die liebend gern die Tragflächen für unseren Airbus bauen würden.“ Airbus ist, mit 14 000 Mitarbeitern, eines der größten Unternehmen überhaupt in Großbritannien. Mehr als 100 000 weitere Jobs hängen von seiner Präsenz auf der Insel ab. „Bitte glaubt nicht dem Wahnsinn der Brexiteers, die euch versichern, dass wir niemals abziehen, dass wir für alle Zeit hier sein werden, nur weil wir große Fabrikationshallen hier haben“, fügte Enders hinzu. „Diese Leute irren sich.“

Der Labour-Abgeordnete und Brexit-Gegner David Lammy fand, es gebe „kein sinnfälligeres Bild“ für den Schaden, den sich Großbritannien mit seiner Brexit-Wut zufüge: „Wenn uns erst mal die Flügel gestutzt sind, sind wir hier isoliert und allein.“

Dyson verlegt den Sitz nach Singapur

Noch mehr Warnleuchten zum Blinken gebracht haben diese Woche zwei „typisch britische“ Firmen mit ihren Neuregistraturen. Das Traditions-Fährunternehmen P&O, seit 1837 ein Stolz des Königreichs, hat beschlossen, künftig statt unterm Union Jack unter der Flagge Zyperns zu verkehren – damit es weiter EU-Vergünstigungen genießen kann. Ein Trost für national gestimmte Briten ist, dass die P&O-Kanalfähre „Spirit of Britain“ ihren Namen soll behalten dürfen. In „Spirit of Cyprus“ wird sie (vorerst) nicht umgetauft. Das andere Unternehmen, von dem David Cameron seinerzeit als von einer „großen britischen Erfolgs-Geschichte“ schwärmte, ist Dyson, berühmt für seine Staubsauger und alle möglichen anderen nützlichen Produkte. Wie die Firma des Milliardärs Sir James Dyson jetzt bekannt gab, will sie ihr Hauptquartier nach Singapur verlegen – offenbar noch bevor Großbritannien Ende März aus der EU austritt. Folgerichtig will Dyson künftig als „globales Technologie-Unternehmen“, und nicht mehr als „britische Erfolgs-Geschichte“, betrachtet werden.

Belächelt worden ist in London freilich Dysons Beteuerung, dass dieser Schritt nichts mit dem Brexit zu tun habe. Singapur, das seit vorigem Oktober über einen Handelsvertrag mit der EU verfügt, auf den die Briten noch Jahre warten müssen, bietet zweifellos fürs Post-Brexit-Geschäft bessere kommerzielle Voraussetzungen (neben Steuervergünstigungen im großen Stil). Der Dyson-Beschluss hat aber noch eine tiefere Bedeutung. Denn James Dyson war immer einer der aggressivsten Brexiteers.

Viele Firmen suchen neuen Standort im EU-Raum

Er war es, der „Brexitannien“ eine goldene Ära verhieß und der britischen Regierung nahelegte, getrost ohne Deal mit der EU auszuscheiden aus der Union. „Die kommen schon zu uns“, prophezeite er, im Blick auf EU-Investoren. Nun zieht er, mit der Firmenkasse, seinerseits fort. Das sei doch, erregt sich die liberaldemokratische Abgeordnete Layla Moran, eine Unverschämtheit sondersgleichen. Es sei „eine unglaubliche Heuchelei.“

In der Tat ist bei Brexit-Gegnern unvergessen geblieben, dass der bis heute führende Brexit-Bannerträger Jacob Rees-Mogg für die von ihm mitbegründete Investment-Firma Somerset Capital Management voriges Jahr zwei neue „Geschäfts-Vehikel“ in Dublin schuf, um post Brexit einen Standort im EU-Raum zu haben. Auch Sir John Redwood, ein EU-Hasser und Veteran der Tory-Rechten, den schon Ex-Tory-Premier John Major einen „Bastard“ nannte, hat sich nicht entblödet, als Finanzstratege der Charles Stanley Investment Bank deren Investoren zu raten, ihr Geld aus Großbritannien abzuziehen und sich „woanders“ umzusehen.

„Die lautesten Brexiteers“, meinte jetzt der Guardian-Kolumnist Jonathan Freedland, könnten es sich dank ihres Reichtums und ungeachtet ihrer eigenen Praxis leisten, großspurig von „Souveränität“ zu reden, „während jedermann sonst mit der zappendusteren Realität fertig werden muss“.