Von Zwangsehen sind vor allem junge Mädchen betroffen. Foto: dpa

Zwangsverheiratung, das klingt nach Afghanistan und nach Mittelalter. Dabei suchen auch hierzulande immer mehr Mädchen nach einem Ausweg aus dem Dilemma. Auf einer Fachtagung des Integrationsministeriums haben Experten nach Lösungen gesucht.

Zwangsverheiratung, das klingt nach Afghanistan und nach Mittelalter. Dabei suchen auch hierzulande immer mehr Mädchen nach einem Ausweg aus dem Dilemma. Auf einer Fachtagung des Integrationsministeriums haben Experten nach Lösungen gesucht.
Stuttgart - Wie ist die Situation im Land?
Unüberschaubar. Anzeigen bei der Polizei gibt es nur wenige. Für das Jahr 2012 tauchen gerade einmal sieben in der Kriminalstatistik auf. Hilfestellen wie die Evangelische Gesellschaft berichten hingegen von 200 bis 300 Beratungsgesprächen pro Jahr in Baden-Württemberg. Wolf Hammann, früherer Landespolizeipräsident und jetzt Ministerialdirektor unter Integrationsministerin Bilkay Öney (SPD), geht von einem „hohen Dunkelfeld und einigen Tausend Fällen pro Jahr in Deutschland“ aus. Meist sind junge Mädchen betroffen, aber nicht nur. Auch homosexuellen Männer droht von ihren Familien die Zwangsheirat mit einer Frau.
Wie kann man sich das konkret vorstellen?
Jan Ilhan Kizilhan, Kulturforscher, Psychologe, Gerichtsgutachter und absoluter Experte auf dem Gebiet der Zwangsverheiratung und Ehrenmorde, gab auf der Fachtagung am Donnerstag in Stuttgart einen umfassenden Einblick in das Leben und Denken einer patriarchalisch geprägten Familie. „Es geht nicht um das Individuum, um Persönlichkeitsentwicklung eines jungen Menschen. Was zählt, ist allein das Kollektiv, also die Familie, und die Ehre.“ Das Leben junger Mädchen aus solchen Familien verglich er mit dem einer Blume. „Sie kriegen Wasser und sollen stumm wachsen.“
Glaubt man Kizilhan, geht es in vielen traditionellen Familien aus dem türkisch-arabischen Kulturraum auch nicht um Dinge wie Zuneigung oder Liebe, sondern allein um einen rationellen Nutzwert für die Familie. „Die erste Generation von Gastarbeitern ist nicht hier angekommen, und sie wird es auch nie tun. Aber sie spielt immer noch eine entscheidende Rolle, wenn es um das Thema Heirat und Familie geht“, so der Professor von der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Villingen-Schwenningen.
Bisweilen gipfelt das Rollenverständnis der Frau gar in der Selbstverleugnung des eigenen Ichs. Kizilhan berichtet von Gesprächen mit betroffenen Frauen, die nicht sagten, „ich habe ein Problem“, sondern „wir haben ein Problem“. Vor dem Hintergrund dieser Denkweise ist es nicht verwunderlich, dass auch der passende Mann für die Tochter bestimmt wird. Häufig handelt es sich dabei um Familienangehörige, etwa den Cousin.
Wie sehr leiden die Frauen?
Viele leiden doppelt. Zum einen persönlich, weil sie sich psychischer, physischer und sexueller Gewalt ausgesetzt sehen. Darüber hinaus, weil sie im Spannungsfeld zwischen den Vorstellungen ihrer Familie und ihrem Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben zerrissen sind. Die häufige Folge sind Suizidversuche oder posttraumatische Entwicklungsstörungen. Ganz oft wissen betroffene Frauen auch nicht, wie sie mit ihren Kindern umgehen sollen.
Seit 2011 ist Zwangsverheiratung strafbar. Was hat sich dadurch geändert?
So wenig, wie Fälle von Zwangsverheiratungen oder Gewalt in der Familie bei der Polizei angezeigt werden, landen sie vor Gericht. Nach den Worten des Pforzheimer Staatsanwalts Klaus Stohrer hat sich durch das neue Gesetz nichts geändert. „Das war reine Symbolpolitik“, sagt er und ergänzt: „Was nichts Schlechtes sein muss, wenn das Symbol ein Gutes ist.“ Kizilhan kritisiert, dass, wenn überhaupt mal ein Fall vor Gericht landet, die Richter häufig zu viel Verständnis für die fremde Kultur zeigten und entsprechend milde Strafen verhängten. Anwältin Marina Walz-Hildenbrand sieht in dem neu geschaffenen Paragrafen immerhin ein Druckmittel: „Es ist etwas anderes, wenn junge Frauen ihren Familien statt ,ich will das nicht‘ entgegenhalten können: ,Ihr könnt alle ins Gefängnis kommen.‘“ Ein juristisches Problem sind die Ländergrenzen. Die meisten Zwangsverheiratungen finden als Ferienhochzeiten in der Heimat statt.
Lassen sich Zwangsverheiratung und häusliche Gewalt überhaupt bekämpfen?
Hilfsangebote für Frauen gibt es unglaublich viele, und jede Organisation kennt Beispiele, wo der Ausstieg aus der Familie in ein neues Leben funktioniert hat. Nach Ansicht von Psychologieprofessor Kizilhan tut sich die Mehrheit aber schwer damit, Hilfe dauerhaft anzunehmen. Spätestens, wenn der Druck aus der Familie zu groß wird („Deine Mutter wird noch krank!“), kehrten viele aus geschützten Einrichtungen wieder in ihr häusliches Umfeld zurück. Einigkeit herrschte darin, dass sich Erfolge nur erzielen lassen, wenn auch die Männer für das Thema sensibilisiert würden.
Was ist für die Zukunft zu erwarten?
In wenigen Jahrzehnten – in Städten wie Pforzheim schon in wenigen Jahren – wird der Migrantenanteil in Deutschland bei 50 Prozent liegen. Kizilhan fürchtet deshalb: „Das Problem wird weiter wachsen.“ Seine These: Die erste Generation Migranten komme ins Rentenalter, die zweite und dritte befinde sich, da beiden Kulturen verpflichtet, in einer „subtilen Krise“, was die Konflikte verschärfe. Sorge bereitet ihm zudem, dass ultrafundamentale Gemeinschaften wie die Jesiden gemäßigten als Vorbild dienten. Kleiner Lichtblick: In der Türkei wollen viele mit den alten Traditionen brechen und sagen: So geht es nicht mehr.