Brasiliens Goldhoffnung Rafaela Silva Foto: AP

Der Weg aus dem Armenviertel zum Olymp - das ist „die“ Aschenputtel-Story dieser Spiele: Warum ganz Brasilien an diesem Montag Judoka Rafaela Silva die Daumen drückt.

Rio de Janeiro - Brasilien richtet die Augen nicht nur auf den kickenden Helden Neymar, auch Rafaela Silva steht hoch im Kurs. Im Jahr 2013 war es, als die heute 24-jährige Judokämpferin bei der Weltmeisterschaft in Rio de Janeiro Gold gewann. Noch nie zuvor hatte einen Brasilianerin im Judo den WM-Titel geholt. Ganz besonders außer Rand und Band waren damals viele Einwohner von Rio - Rafaela Silva lebt schließlich in ihrer Stadt.

An diesem Montag (Wettkampfbeginn um 15 Uhr) ist die Kämpferin in der Klasse bis 57 Kilogramm abermals die Favoritin; diesmal bei Olympia, aber wieder in Rio. Bereits 2012 bei den Spielen in London war Silva auf den Hauptpreis so gut wie gesetzt. Doch ein technischer Fehler brachte sie um den Lohn. Das soll nicht wieder passieren - hofft sie, hofft Brasilien.

Hinter der Geschichte um Rafaela Silva steckt mehr als nur Patriotismus. Sie wuchs in einer Favela auf, die kurioserweise Cidade de Deus heißt, die Stadt Gottes, dabei geht es dort alles andere als göttlich zu. Der Weg aus dem Armenviertel zum Olymp - das ist „die“ Aschenputtel-Story dieser Spiele. Als Schülerin wurde Silva entdeckt. Ihrem Förderer war ihr außergewöhnlicher Kampfgeist aufgefallen. Er ließ sie nicht aus den Augen, brachte sie später in eine Judoschule. Die gründete der ehemalige Bronzemedaillengewinner Flavio Canto.

Rafaela Silva ist gestählt. Sie war es gewohnt, sich in der rauen Welt der Favelas durchzusetzen, wo die Menschen ihre Probleme bisweilen mit Prügeleien oder Schusswaffen lösen. Mal steckte sie ein, mal teilte sie aus, auch gegen Jungs. „Wenn du hier nicht zuschlägst, dann schlägt dich jemand anderes“, sagt Rafaela Silva über das Gesetz Nummer eins in ihrer Heimat.

Rafaela Silva – ein Vorbild in den Favelas

Dass die Brasilianerin in diesem von Drogen und Gewalt bestimmten Sumpf womöglich untergeht, verhinderte wohl auch der Sport. Ihre überschüssige Energie brachte sie fortan auf Judo-Matte. Sie hat sich dort ausgetobt, Aggressionen abgebaut, sich ausgepowert. Sofern das eben möglich ist in der doch eher sanften japanischen Kampfsportart. Beim Judo wird in erster Linie das Gleichgewicht des Gegners gebrochen – ohne Fausthieb. Es muss auch mal so gehen.

Heute ist Rafaela Silva Vorbild für viele Kinder in den Favelas, die keine Hoffnung haben, keine Schulbildung, keine Chance auf ein würdiges Leben. Sie selbst ist dankbar, dass der Sport sie auffing und ihr eine Perspektive gab. „Nur Gott weiß, wie sehr ich gelitten habe und was ich machen musste, um da zu sein, wo ich jetzt bin“, so erklärt sie sich ihren Weg. Silva ist so gläubig wie viele Menschen in den üblen Gegenden Rios, in denen es gute Gründe gibt, den Glauben an alles zu verlieren.

Die Hälfte der Kinder auf diesem Planeten wächst in Städten auf; insgesamt sind es eine Milliarde. Weltweit wird davon jedes dritte Kind in einem Slum oder einem Armenviertel wie den Favelas groß. Kein Schule, keine Gesundheitsversorgung, dazu kommen furchtbare hygienischen Bedingungen, vor allem in den Slums. Das Kinderhilfswerk Unicef versucht seit Jahren, die Jugendlichen auf dem Weg aus dem Elend zu unterstützen. „Städte werden für immer mehr Kinder zu Orten der Armut“, sagt Christian Schneider und macht sich Sorgen. Der Geschäftsführer von Unicef-Deutschland mahnt: Regierungen, Städte und Behörden müssten unbedingt mehr gegen diese Missstände tun.

Ein Olympiasieg wäre das Größte für die Judoka

Derweil will Unicef gezielt das Bewusstsein brasilianischer Kinder stärken, wonach auch sie ein Recht auf Sport haben, nicht nur die Altersgenossen aus den guten Gegenden. Den Ärmsten der Armen soll vermittelt werden, dass Bewegung und der Spaß am Spiel den Teamgeist fördern, wobei man sich trotzdem verausgaben kann. Disziplin, Respekt und Verantwortung – diese Tugenden, hofft Unicef, könnten vielen Kids in eine neue Zukunft führen. Ihnen eine Orientierung zu geben, Werte zu vermitteln und sie mit einer gewissen Sozialkompetenz auszustatten - das müsse das Ziel sein. Und dabei hilft der Sport.

Rafaela Silva hat ihren Weg gefunden, gefahren ist sie damit gut. Das Größte wäre jetzt nur noch der Olympiasieg in der Stadt, die sie liebt, obwohl ihr Rio de Janeiro viele Jahre keine Chance gab. „Rio gibt dir Kraft für den Kampf“, sagt Rafaela Silva, „und die Kraft für die Wut.“