Chung Nguyen war nach dem Feuer eine der ersten Mieterinnen in der Geißstraße 7. Für Michael Kienzle von der Stiftung Geißstraße 7 ist das Gebäude als Ort der Verständigung. Foto: Leif Piechowski

Es war die schlimmste Brandkatastrophe in Stuttgart nach dem Zweiten Weltkrieg. Bei einem Brand am 16. März 1994 kamen in der Geißstraße sieben Menschen ums Leben. Mittlerweile ist das Haus zu einem Ort der Hoffnung geworden.

Es war die schlimmste Brandkatastrophe in Stuttgart nach dem Zweiten Weltkrieg. Bei einem Brand am 16. März 1994 kamen in der Geißstraße sieben Menschen ums Leben. Mittlerweile ist das Haus zu einem Ort der Hoffnung geworden.

Stuttgart - Nur vier Minuten hat es nach dem Alarm gedauert. Um 3.36 Uhr war die Feuerwehr am Mittwoch, den 16. März 1994, am Brandort in der Geißstraße. „Als wir ankamen, stand das Haus wie eine Fackel in Flammen. An den Fenstersimsen hingen Leute, die schrien“, schilderte damals ein Feuerwehrmann die Situation. Etwa 50 Menschen waren in dem fünfstöckigen Gebäude von den Flammen eingeschlossen, sieben konnte die Feuerwehr nicht retten:

Eine 57 Jahre alte Jugoslawin sprang in Panik aus dem Fenster und starb auf dem Pflaster. In den Flammen kamen eine 24 Jahre alte Deutsche und ihre zweijährige Tochter, ein 60-jähriger Kroate und seine 55 Jahre alte Frau sowie eine 27-Jährige im achten Monat schwangere Türkin und ihre vierjährige Tochter um. Deren Mann, Harun Say, überlebte, weil er nicht zu Hause war. Der heute 49-Jährige hat Tage,die Katastrophe nicht verarbeitet. „Ich versuche, nicht daran zu denken,. Doch plötzlich ist alles da. Dann wird mir so schwindlig als ob ich betrunken wäre.“ Nachdem er Frau und die Tochter in der Heimat bestattet hatte, kehrte er nach Stuttgart zurück. Fuß gefasst hat er nach eigenen Worten nicht mehr.

Ein Jahr nach dem Anschlag, im Sommer 1995, wurde der Brandstifter verhaftet: ein 25-jähriger psychisch Kranker, der in Esslingen sieben mal Feuer gelegt hatte. Er wurde zu 15 Jahren Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt. Für Say ist das kein Trost. Er hatte Hilfe oder zumindest Anteilnahme der Stadt erwartet. „Die gab es nicht“, sagt er bitter.

Kurz nach dem Brand wurde die Stiftung Geißstraße 7 gegründet. Die Hofbräu AG, Eigentümerin des Gebäudes Geißstraße ,7 übereignete ihr das Haus. Hintergrund der Schenkung war, dass die Brauerei unter moralischen Druck geraten ist: Hofbräu hatte das Haus verpachtet, der Pächter es weiter vermietet. Der Mieter hat die Zimmer überteuert an vermutlich bis zu 50 Personen vermietet. Gemeldet waren 27 Personen.

Die Stiftung bietet in der Geißstraße 20 Menschen vor allem ausländischer Herkunft preiswerten Wohnraum. Für rund acht Euro pro Quadratmeter inklusive Nebenkosten war einer der ersten neuen Mieter im Haus die Familie Nguyen aus Vietnam. Als die Familie einzog, war Chung Nguyen mit Sohn Sam schwanger: im achten Monat wie Frau Say, als sie in den Flammen umkam. Sam macht derzeit in Stuttgart Abitur. Seine älteren Brüder studieren. . Chung Nguyen und ihr Mann betreiben beim Rathaus einen asiatischen Imbiss, der gut läuft.

„Die Geschichte der Familie Nguyen ist eine Fabel für gelungene Integration“, sagt Michael Kienzle. Der Grünen-Stadtrat ist Mitgründer und Vorstandsvorsitzender der Stiftung. Bis zu ihrem Einzug in der Geißstraße hatte Familie Nguyen bei einer Freundin in deren winzigen Wohnung gelebt. „Mit einem dritten Kind ging das nicht mehr“, sagt Chung Nguyen. Weil die Kinder groß sind, ist die Familie vor wenigen Wochen ausgezogen. „Aber die Zeit in der Geißstraße war sehr schön und für uns voller Hoffnung“, sagt die 53-Jährige.

Einmal in der Woche gab es unten im Saal eine Krabbelgruppe für Kinder verschiedenster Nationalitäten. „Weil Herr Nguyen für alle gekocht hat, sind mittags mich eingeschlossen auch die Männer gekommen“, sagt Kienzle. Das Ziel der Stiftung steht auf einer Tafel am Gebäude. Sie will „unterschiedliche Lebensstile und Nationen zusammenführen“. Mittel dazu sind Vorträge zum Beispiel über das Thema Heimat oder Aktionen wie das im April geplante Verschenken von Fahrrädern. „Rund 250 gebrauchte Räder haben Bürger gespendet. Die Neue Arbeit richtet sie für die Asylbewerber her“, sagt Kienzle und setzt darauf, dass solche Aktionen Menschen zusammenbringen. „Die Flüchtlinge lernen per Rad ihre neue Heimat kennen. Und den Spendern der Räder können wir unsere Arbeit nahe bringen“, sagt er. Kontakt zu den Überlebenden des Brands hat er nicht. „Wir haben nicht einmal deren Namen bekommen. Ihre Betreuung hätten wir aber auch nicht leisten können. Dazu sind Fachkräfte nötig .“

Asylpfarrer Werner Baumgarten wird in seiner Predigt zum Gedenken an die Opfer des Anschlags am Sonntag, 13 Uhr, in der Schlosskirche vorschlagen, Harun Say als Hauptgeschädigten der Katastrophe stellvertretend für die anderen Opfer öffentlich zu würdigen.