Der Max-Eyth-See in Stuttgart ist trotz des regen Besucherstroms eine Oase für viele Pflanzen und Tiere. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

In 25-jähriger Arbeit haben Vegetationskundler die wild wachsenden Farn- und Blütenpflanzen auf der Gemarkung von Stuttgart erfasst – und eine erstaunliche Artenvielfalt festgestellt. Doch diese ist zunehmend bedroht.

Stuttgart - Von wegen Betonwüste. Obwohl in den letzten Jahrzehnten viele Flächen durch den Bau von Gebäuden und Straßen versiegelt worden sind, kann Stuttgart mit einer erstaunlichen Vielfalt wild wachsender Pflanzen aufwarten. Die „Flora Stuttgart“, die jetzt in der Akademie für Natur- und Umweltschutz Baden-Württemberg vorgestellt wurde, verzeichnet auf mehr als 730 eng bedruckten Seiten 1485 Arten – von Abies alba (Weißtanne) bis Zannichellia palustris (Teichfaden).

Die Landeshauptstadt hat damit eine vielfältigere Wildflora als etwa Hamburg, auf dessen rund viermal so großer Fläche lediglich 1086 Pflanzenarten gezählt wurden. „Stuttgart steht nicht schlecht da“, sagte die Landschaftsplanerin und Co-Autorin Inge Maass bei der Präsentation der „Flora“. Positiv auf die hiesige Wildvegetation wirke sich beispielsweise die heterogene Geologie der Stuttgarter Gemarkung aus. Dadurch sind sehr unterschiedliche Böden entstanden, auf denen sich jeweils andere Pflanzen besonders wohlfühlen. Neben Muschelkalk finden sich etwa Stubensandstein, Gipskeuper oder Löss.

Diverse Lebensräume

Generell gebe es in Städten „sehr diverse Lebensräume für Pflanzen“, sagte Thomas Breunig von der Botanischen Arbeitsgemeinschaft Südwestdeutschland. Beispiele seien Siedlungen, Bahndämme, Friedhöfe – oder auch ein Lichtschacht, in dem schattenliebende Arten gedeihen. Auf Baustellen entwickelt sich ebenfalls eine spontane Vegetation, an der man studieren kann, in welcher zeitlichen Reihenfolge einzelne Arten auftauchen. Botaniker sprechen hier von Sukzession. „Das zu beobachten ist oft spannender als eine Wacholderheide auf der Schwäbischen Alb“, so Breunig.

Städte spielen nach Ansicht des Vegetationsexperten auch eine wichtige Rolle als Ausgangspunkt für die Verbreitung eingewanderter Pflanzenarten. So schleppten etwa Urlauber in ihren Koffern Samen ein. Auch über den Umschlag von Waren gelangen neue Gewächse ins Land. Besonders viele Neuzugänge kamen laut Breunig in den letzten Jahrzehnten aus dem Mittelmeerraum – etwa das Vierblättrige Nagelkraut, das in Pflasterfugen gedeiht und früher nur in Südfrankreich, Spanien oder Italien zu finden war. „Hier wirkt sich der Klimawandel aus“, sagt der Botaniker. Ein anderes Beispiel ist der Sommerflieder. Auch manches Ackerunkraut, das in ländlichen Regionen durch intensive Landwirtschaft zurückgedrängt wurde, hat in der Stadt einen (Über-)Lebensraum gefunden.

Ehrenamtliche Helfer

Die letzte umfassende „Flora“ von Stuttgart hatte vor 50 Jahren der damalige Leiter der Abteilung Botanik am Staatlichen Museum für Naturkunde, Siegmund Seybold, vorgelegt. Die aktuelle „Flora“ ist das Ergebnis von rund 25 Jahren Kartier- und Sammelarbeit, wie Inge Maas berichtete. Wichtigste Datengrundlage waren systematische Geländebegehungen, an denen auch viele ehrenamtliche Helfer beteiligt waren. Genutzt wurden zudem Daten aus Diplomarbeiten, Biotopkartierungen des Amts für Umweltschutz sowie Gutachten. Hinzu kamen Exkursionen des Botanischen Arbeitskreises Stuttgart sowie zusätzlich gezielte Kartierungen. Neben den Feldbeobachtungen der Jahre 1990 bis 2016 flossen historische Daten aus älteren Florenwerken in das aktuelle Verzeichnis ein. Um die räumliche Verteilung der Pflanzen zu erfassen, teilten die Forscher die Gemarkung in 126 Rasterfelder ein, die jeweils 1,52 mal 1,37 Kilometer messen – also rund zwei Quadratkilometer. So entstanden für jede Pflanzenart detaillierte Verbreitungskarten, die auch Aussagen über die Häufigkeit erlauben.

In der Gesamtübersicht sticht ein Rasterfeld rot heraus, auf dem 610 verschiedene Pflanzenarten gefunden wurden – so viele wie sonst nirgends in Stuttgart. Es handelt sich um die Universität Hohenheim und ihre Umgebung. Die meisten anderen Rasterfelder liegen zwischen 350 und 400 Arten. Inge Maass betont, dass auch in Hohenheim lediglich wild wachsende Pflanzen erfasst wurden – die Vegetation in den Universitätsgärten oder auf den Versuchsfeldern blieb außen vor. Trotzdem vermutet die Botanikerin in und um Hohenheim eine gewisse Verzerrung der Ergebnisse: „Da sind einfach besonders viele engagierte Leute rumgelaufen.“ Zum Beispiel Wissenschaftler und Studenten, die sich überdurchschnittlich gut mit der heimischen Vegatation auskennen.

Erfreulicher Artenreichtum

Der erfreuliche Artenreichtum im Stadtgebiet kann nach Ansicht der Autoren aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Bestand etlicher wild wachsender Pflanzen gefährdet ist. Rund ein Fünftel der in Stuttgart gefundenen Arten tauchte nur sehr selten auf – und rund ein Viertel selten. „Teile der Flora sind extrem fragil“, so Inge Maass. In manchen Fällen könnte ein einzelner Eingriff in den Lebensraum – etwa durch eine Baustelle – dazu führen, dass eine Art komplett verschwindet. Etliche Stuttgarter Pflanzen stehen auch mit unterschiedlichen Gefährdungsstufen auf der Roten Liste. Rund 320 Arten seien allein zwischen 1800 und 1990 im Stadtgebiet verschollen oder ausgestorben. Auf der anderen Seite wurden seit 1990 rund 250 Arten neu gemeldet, die in früheren Floren nicht vermerkt waren.

Zum Artenschwund tragen neben schrumpfenden und zerstückelten Lebensräumen auch der Pestizideinsatz, der Eintrag von Düngemitteln in bislang nährstoffarme Standorte und der Klimawandel bei. Die Fachleute stellten bei der Vorstellung der „Flora“ auch eine Verbindung zum Insektensterben her, das aktuellen Zahlen zufolge immer dramatischere Ausmaße annimmt. „Wildpflanzen sind eine wichtige Nahrungsquelle für die Insekten“, sagte der Leiter der Akademie für Umwelt- und Naturschutz, Claus-Peter Hutter. Zugleich verändere sich die Vegetation so schnell wie nie zuvor: „Man kartiert heute Dinge, die vielleicht übermorgen schon verschwunden sind.“

Zucht bedrohter Wildpflanzen

Die Autoren schlagen die Aufstellung einer Liste von Pflanzenarten vor, um die man sich mit konkreten Projekten kümmern sollte. Als positives Beispiel wird etwa die Förderung der typischen Weinberg-Flora in den Neckarbezirken genannt. Artenschutz in einer Kulturlandschaft bedeutet aber nicht, die Vegetation einfach sich selber zu überlassen. So ist es wichtig, ab und zu Bäume und Büsche zu roden, um Platz zu schaffen für Gewächse, die offene Flächen brauchen. Allerdings stießen Rodungsaktionen wie etwa im Eichenhain bei den Anwohnern nicht nur auf Gegenliebe, berichtete Renate Kübler vom Umweltschutzamt der Stadt Stuttgart.

Klar ist: Wer eine Art schützen will, muss ihren Lebensraum erhalten. Doch in den Hohenheimer Gärten soll nun auch ein anderer Weg beschritten werden, wie Maass erläutert : eine Erhaltungszucht für besondere bedrohte Wildpflanzen. Sie räumt aber ein, dass das nur ein Notnagel sein könne.

Buch: Flora Stuttgart

Buch
Die „Flora“ wurde von einem fünfköpfigen Team um den Hohenheimer Vegetationskundler Reinhard Böcker erstellt. Das 732 Seiten starke Werk, das durch eine CD-Rom ergänzt wird, ist im Eigenverlag erschienen und kann über den Buchhandel bestellt werden: Böcker, R., Hofbauer, R., Maass, I., Smettan, H., Stern F. (2017): Flora Stuttgart. ISBN: 978-3-9818110-1-8. Preis: 35 Euro.