Bob Dylan, wie er sich selbst gerne sieht Foto: Sony

Die Menschen sind verrückt, und die Zeiten sind seltsam. Bob Dylan behauptet das in dem Song „Things Have Changed“, mit dem er am Sonntag sein Open-Air-Konzert in Tübingen eröffnet – Ein verregnetes Ereignis, das seltsam, verrückt und wunderbar werden sollte.

Stuttgart - Das fiese Monster, das sich Bob Dylan als junger Mann ausdachte, hat tanzen gelernt. Mit weichen Bewegungen und immer wieder sachte angeschubst von einem zärtlichen Gitarrenriff und sanften Klavierharmonien kreist es durch die verregnete Nacht.

Während der inzwischen 74-jährige Dylan in dem surrealen Versepos „Desolation Row“ von Verzweiflung und Erlösung, von Jack Kerouac und Ezra Pound, von Cinderella und Casanova, von Albert Einstein und dem Holocaust erzählt, lässt er den Song, den er einst als knurrig-knochiges Ungetüm an der Akustikgitarre zum Leben erweckte, lieblich und leichtfüßig klingen. Betörende Melodien, die sich 50 Jahre lang tief im Innern dieses Großwerks versteckt hielten, dürfen nun den Ton angeben, erzeugen eine bizarre Diskrepanz zwischen Form und Inhalt, machen den Song zu einem noch großartigeren, noch gefährlicheren unberechenbaren Monster. Und mittendrin Bob Dylan in der Rolle des lakonischen Fatalisten, des fröhlichen Untergangspoeten.

Dauerregen, Matsch und Kälte - egal

Als Bob Dylan am Sonntagabend gegen Ende seines Konzerts beim Sparkassen-Carré in Tübingen „Desolation Row“ so wunderbar neu interpretiert, können einem der Dauerregen, der Matsch und die Kälte nichts mehr anhaben. Sogar die Leute, die einem ständig mit ihren Regenschirmen die Sicht auf die Bühne versperren, sind vergessen. Songs wie dieser machen Dylans Auftritt in Tübingen zu einem dieser Ereignisse, die man nie vergisst.

Tübingen, diese altehrwürdige Bastion der Dichter und Denker, könnte eine Stadt nach Dylans Geschmack sein. Sein Auftritt findet allerdings ausgerechnet an dem Ort statt, an dem Tübingen am wenigsten nach Hölderlin und Hegel aussieht. Die Bühne ist umzingelt von tristen Bankgebäuden. Am Ende des Open-Air-Geländes befindet sich eine hässliche Fußgängerbrücke, auf der sich schon nachmittags Fans versammelt haben. Die lässt Dylan aber schnell verscheuchen, weil er beim Soundcheck unbeobachtet bleiben will.

Schon gar nicht möchte er, dass man ihn fotografiert. Pressefotografen hat er darum beim Konzert nicht zugelassen. Und Ordner sind angewiesen, während des Auftritts all jene Fans, die mit ihren Handys Bilder machen wollen, freundlich aber bestimmt darauf hinzuweisen, dass der Künstler das gar nicht leiden kann.

Mit einer ungewohnten Lässigkeit

Die 8000 Besucher, die am Sonntag dem schlechten Wetter trotzen, werden dafür mit einem knapp zweistündigen Konzert belohnt, bei dem Dylan zwar sparsam mit den Liedern umgeht, die man als Hits bezeichnen könnte, sich aber mit einer ungewohnten Lässigkeit seinem Repertoire widmet. Angenehm altmodisch rekurrieren seine aktuellen Arrangements auf Blues-, Jazz- und Folktraditionen, die weit in das vorige Jahrhundert zurückführen.

Mit „Things Have Changed“, einer jazzigen Nummer, die er für den Film „Wonderboys“ schrieb und die ihm einen Oscar einbrachte, beginnt Dylan kurz nach 21 Uhr das Konzert. Er ist ganz in Schwarz gekleidet und hat seine Band in graue Anzüge gesteckt. Während er von den verrückten Menschen und der seltsamen Welt singt („People are crazy and times are strange / I locked in tight, I’m out of range / I used to care, but things have changed“), krächzt seine Stimme weniger als gewohnt. Und zwischendurch glaubt man sogar ein paar zögerlich-wippende Tanzschritte zu erkennen, wenn er vorne am Mikrofon steht.

Den Folksänger will er nicht mehr mimen

Oft sitzt Dylan am Flügel, immer wieder spielt er – wie zum Beispiel in „Blind Willie McTell“ – auch Mundharmonika. Den Folksänger will er aber nicht mehr mimen, kein einziges Mal hängt er sich bei der Show eine Gitarre um. Stattdessen lässt Dylan, der es sich angewöhnt hat, nicht mit dem Publikum zu sprechen, die Stücke lieber swingen („Spirit On The Water“), verwandelt sie in ein betörendes Rezitativ („Shelter From The Storm“) oder in einen Boogie („Beyond Here Lies Nothin’“). Durch das nur scheinbar völlig harmlose „Duquesne Whistle“ arbeiten sich ein unermüdlicher Walkingbass und vergnügte Blueslicks, „Early Roman Kings“ variiert den wuchtigen Blues von Muddy Waters’ „Manish Boy“. „Pay In Blood“ lässt sogar einen Discobeat erahnen. Und in der Sinatra-Nummer „Where Are You?“, die Dylan zum ersten Mal überhaupt live singt, gefällt sich der größte Grantler des Rock’n’Roll in der Rolle des sentimentalen Romantikers, der traurig-schön sein Herz ausschüttet.

Und nicht nur „Desolation Row“ wird an diesem Abend in Tübingen zum perfide umgedeuteten Kunstwerk, auch die herrlich spröde „Ballad Of A Thin Man“ und „All Along The Watchtower“, die einzige Zugabe, hat Dylan raffiniert überarbeitet und beweist damit, dass er immer noch der große Unberechenbare des Rock ist.

Die Menschen mögen verrückt und die Zeiten seltsam sein. Aber solange es einen wie Bob Dylan gibt, der davon erzählen kann, besteht Hoffnung.