Ermittler sichern Spuren an dem Lastwagen, mit der aus Tunesien stammende Franzose Mohamed Lahouij Bouhlel in Nizza mindestens 84 Menschen tötete. Foto: EPA

Noch ist nicht klar, ob die Bluttat von Nizza der Amoklauf eines Mannes war, dessen Frau sich scheiden lassen wollte. Oder der Terroranschlag von einem, der sich selbst radikalisierte. Material dafür gibt es im Internet zuhauf.

Stuttgart - Der ideale Platz, schrieb der Terrortrainer mit dem Kampfnamen Yahya Ibrahim, der ideale Platz für ein Attentat mit einem Auto ist einer, „an den so viele Menschen und so wenig Fahrzeuge wie möglich gelangen können. Wenn Du bis in Fußgängerzonen durchbrechen kannst, dann ist das fabelhaft“. Yahya Ibrahims Tipps für perfekte Terroranschläge erschienen im Oktober 2010 im Internetmagazin „Inspire“, dem englischen Verb für „begeistern“. In dem von der Terrorgruppe Al-Kaida veröffentlichten Online-Trainingsbuch für Dschihadisten betont der Lehrmeister, seine Empfehlungen würden nicht nur für den Heiligen Krieg in den USA gelten. „Diese Ideen könnt Ihr auch in Israel, Großbritannien, Kanada, Australien, Frankreich, Deutschland, Dänemark, Holland und in jedem Land durchführen, deren Regierungen und Gesellschaften die israelische Besetzung Palästinas, die US-Invasionen in Afghanistan und den Irak gutheißen oder die ebenso eine Rolle darin spielen, den Propheten zu schmähen.“

Noch ist nicht klar, ob Mohamed Salman Ben Mondher Ben Mohamed Lahouij Bouhlel „Inspire“ las, um sich Ideen für seine Bluttat in Nizza zu holen. Im Moment ist nicht einmal geklärt, ob der 31-jährige in der tunesichen Küstenstadt Bizerta geborene Franzose überhaupt ein Terrorist war. Oder ob der polizeibekannte Kleinkriminelle wegen seiner bevorstehenden Scheidung Amok fuhr. Sicher ist, dass ein Massenmord wie dieser an der Côte d’Azur den Szenarien gleicht, für die nahezu alle islamistischen Terrorgruppen seit Jahren werben.

Blaupausen für junge Menschen bis Mitte 30

Und für die sich im Internet Dutzende Anleitungen finden lassen. „Die Zielgruppe für diese Blaupausen ist immer die gleiche: Junge Menschen bis etwa Mitte 30, die sich in einer Lebenskrise befinden, die Halt suchen und ihn in einer radikalen Form des Islam finden“, ist US-Terrorexperte Sebastian Gorka überzeugt.

Mit Hilfe der reich bebilderten und detailreich beschriebenen Internet-Handbücher sollen sie im Kinder- und Jugendzimmer das Rüstzeug bekommen, jeden zu töten, der andere Überzeugungen in sich trägt als sie selbst. „Für die westliche Welt sind diese ‚einsamen Wölfe‘ die eigentliche Herausforderung im Terrorismus. Solche Täter werden von den Sicherheitsbehörden meist nicht erkannt, weil sie sich in den eigenen vier Wänden statt in den einschlägig bekannten Gebetsräumen radikalisieren. Oft bemerkt das nicht einmal die eigene Familie“, sagt Gorka, der die US-Bundespolizei FBI ebenso in Antiterrorstrategien berät wie amerikanische Spezialeinheiten und die Marines.

Spiel mit den Schuldgefühlen der Daheimgebliebenen

Propagandavideos, wie die Terrorgruppen Al-Kaida und der Islamische Staat täglich Dutzende ins Netz stellen, verherrlichen den weltweiten Kampf der Dschihadisten. Sie malen einerseits das Idealbild des Syrien- oder Irakkämpfers, andererseits bieten sie aber auch jenen eine Lösung an, die sich dem Kampf auf den Schlachtfeldern zwischen Euphrat und Tigris nicht anschließen. „Da wird mit dem Schuldgefühl gespielt, selbst nicht in den Mittleren Osten zu reisen und zu kämpfen und stattdessen in der Heimat zu bleiben. Als Alternative wird angeboten: Trage den Dschihad in Dein Heimatland, zerstöre dort, was Dich zerstört“, erklärt Gorka die Eigendynamik, die einsame Wölfe hervorbringt.

Eltern dürften gerade ihre pubertierenden Kinder nicht dem Computer überlassen, mahnen Kinder- und Jugendpsychologen seit Jahren. „Die Tatsache, dass viele Eltern heute am Rechner nicht mit ihren Kindern Schritt halten können, darf nicht dazu führen, ihnen entweder die digitale Welt zu verbieten oder sie ihnen zu überlassen“, sagte der Berliner Psychologe Ahmad Mansour bei einem Expertengespräch zum Thema Salafismus, zu dem die CDU-Landtagsfraktion im vergangenen Sommer einlud.

Zeit für erfolgreiche Anschläge nehmen

Baden-Württembergs Verfassungsschützer Herbert Landolin Müller warnte auf derselben Veranstaltung, „die Kreativität zu unterschätzen, die einsame Wölfe entwickeln können“. Er muss Terrortrainer Yahya Ibrahim gelesen haben. Der gibt seinen Schülern mit auf den Weg: „Nehmt Euch Zeit. Ein erfolgreicher Anschlag in sechs Monaten, einem Jahr oder mehr ist besser als ein erfolgloser Versuch, der Euch nur hinter Schloss und Riegel bringt.“