Spurensicherung: ein Mann soll seiner Frau ein Seil um den Hals gebunden und den Strick an der Anhängerkupplung eines Autos befestigt haben. Danach soll er mit dem Wagen und der festgebundenen Frau durch die Stadt Hameln gefahren sein. Foto: Polizeiinspektion Hameln-Pyrmont

Die Tat von Hameln schockiert viele. Doch die Richterkritik der Polizeigewerkschaft ist zu pauschal – kommentiert Wolfgang Molitor.

Stuttgart - Eine junge Frau wird von ihrem Ex-Freund mit hoher Geschwindigkeit und an einem an ein Auto gebundenen Seil rund 250 Meter weit durch die Straßen des niedersächsischen Städtchens Hameln geschleift. Der zwei Jahre alte Sohn der beiden erlebt das Drama vom Rücksitz aus mit. Die 28-Jährige, am ganzen Körper und am Kopf schwer verletzt, liegt im künstlichen Koma und schwebt Tage danach noch immer in Lebensgefahr. Der Täter, Angehöriger eines vermutlich arabischen Clans aus dem Libanon und der Türkei, sitzt wegen Verdachts auf versuchten Mord in Untersuchungshaft. Und in Hameln trifft man sich, zutiefst betroffen, zu einer Mahnwache gegen Gewalt.

Da sorgt der Zwischenruf des Vorsitzenden der Deutschen Polizeigewerkschaft für ungewohnt scharfe Töne. Mehr als einmal sei der Täter mit Straftaten auffällig gewesen, ohne je im Gefängnis gelandet zu sein, schimpft Rainer Wendt, ein Vorwurf an die Justiz, den die Staatsanwaltschaft so nicht bestätigen kann. Doch Wendts Schelte geht über den Hamelner Fall hinaus. Es werde sich auch diesmal schon ein Richter finden, der dem Täter wieder eine positive Sozialprognose gebe, um ihn nicht hart zu bestrafen.

Entscheidung über Strafzumessung

Wendts Pauschalkritik trifft die deutsche Rechtssprechung an einem empfindlichen Punkt. Denn die Sozialprognose – also die in Paragraf 56 des Strafgesetzbuches geregelte kriminologische, psychiatrische und psychologische Risikobeurteilung eines Straftäters, ob er fähig und willens ist, sich zu einem späteren Zeitpunkt an Normen, Regeln und Gesetze zu halten – nehmen Richter nicht selten zum Anlass, das Strafmaß gering zu halten oder zur Bewährung auszusetzen. Denn bei der Entscheidung über eine Strafzumessung oder Strafaussetzung hat jeder Richter einen großen Bewertungsspielraum – zumal die von einer Sozialprognose genährte Erwartung – so das Oberlandesgericht Oldenburg – keine sichere Gewähr für ein künftiges straffreies Leben des Täters voraussetzen muss.

Es regiert das Gesetz

Urteilen Richter in Deutschland also zu milde? Man machte es sich zu leicht, Wendt eilig beizuspringen. Auch weil seine Behauptung, die volle Härte des Gesetzes bedeute oft nur noch, dass man die Personalien der Straftäter feststelle, bevor die Richter sie dann laufen ließen, mehr von Vorurteilen getragen und durch die Polizeibrille gesehen sein dürfte. Denn wehrhafte Rechtsstaatlichkeit spiegelt sich nicht in drakonischen Strafen, sondern auch im ehrlichen Bemühen um Resozialisierung. Dass so mancher Richter mehr auf die Zukunft der Täter statt auf die Leiden der Opfer zu schauen scheint (nicht zuletzt, wenn es um soziale, kulturelle und religiöse Tathintergründe geht), sei dabei nicht bestritten. Dennoch schießt Wendt mit seiner Allgemeinkritik übers Ziel hinaus. Letztlich ist es im Rechtsstaat Richterpflicht, Ermittlungsergebnisse objektiv zu prüfen und zu werten – egal, wie frustrierend die Urteile für die Polizei manchmal ausfallen mögen.

Es wäre besser, Wendt würde sich an die Seite der Gerichte stellen, die ihrerseits in vielen Fällen unterbesetzt mit dem Rücken zur Wand stehen – so dass Prozesse teilweise über Jahre unbearbeitet liegen bleiben (was der Erinnerung von Zeugen schadet) oder sich ewig hinschleppen (was oft Strafabschläge oder Einstellungen nach sich zieht). Eines aber sollte Wendt nicht, wenn er Täter der gerechten Strafe zuführen will: Polizei gegen Richter ausspielen. Weil im Rechtsstaat für alle Entscheider gilt: Es regiert das Gesetz. Nicht das Gefühl.

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