Proteste nach der Tat in Civitanova Marche. Foto: dpa/Chiara Gabrielli

Mitten in einer Einkaufsstraße in einem Adria-Badeort schlägt ein 32-jähriger Italiener einen afrikanischen Straßenhändler tot. Niemand greift ein – einige Passanten filmen den Mord stattdessen mit ihren Mobiltelefonen. Italien ist schockiert.

Die tödliche Attacke auf einen Straßenhändler hat in Italien großes Entsetzen ausgelöst. Die Tat ereignete sich am vergangenen Freitag kurz nach 14 Uhr in Civitanova Marche, einem Badeort an der Adria rund 25 Kilometer südlich von Ancona. Auf dem Corso Umberto I, der zentralen und belebten Einkaufsstraße der Kleinstadt.

Ein 39-jähriger, aus Nigeria stammender Straßenhändler hatte der Freundin eines 32-jährigen Italieners Taschentücher und Feuerzeuge zum Kauf angeboten. Während die Frau in einen Kleiderladen ging, stürzte sich der kräftig gebaute 32-Jährige auf den gehbehinderten Afrikaner, entriss ihm seine Krücke und schlug damit auf ihn ein, bis dieser zu Boden ging. Dann kniete er sich dem sich verzweifelt wehrenden Opfer auf die Brust, schlug ihm mit den Fäusten ins Gesicht und würgte ihn. Als sich sein Opfer nicht mehr bewegte, nahm er ihm noch sein Handy ab und ging seelenruhig davon.

Verstörende Reaktion der Passanten

Das brutale Tötungsdelikt ist als solches schon schockierend genug. Fast noch verstörender ist die Reaktion der Passanten, die den Mord aus nächster Nähe beobachteten: Vier endlose Minuten dauerte der einseitige Kampf, aber niemand schritt ein, niemand half dem Afrikaner. Stattdessen hielten mehrere Personen das Geschehen mit ihrer Handykamera fest. „Es war unmöglich, die beiden zu trennen, dieser Typ war grausam“, sagte ein Augenzeuge der Zeitung „La Repubblica“. Er habe ihn angeschrienen: Hör auf, du bringst ihn um. Danach habe er die Krücke weggetreten, aber der Angreifer sei mit bloßen Händen weiter auf den 39-Jährigen losgegangen.

Der Augenzeuge alarmierte die Carabinieri und die Ambulanz. Für den Straßenhändler – Vater einer achtjährigen Tochter – kam jede Hilfe zu spät: Er war schon tot, nach Angaben der Behörden wahrscheinlich erstickt oder stranguliert. Sein Leichnam wurde zugedeckt und blieb noch mehrere Stunden am Tatort liegen. Der Täter wurde kurz darauf gefasst und ließ sich widerstandslos abführen. Gegen ihn wird wegen vorsätzlicher Tötung und Raub ermittelt.

Tödlicher Streit wird zum Wahlkampfthema

In Italien, wo nach dem Sturz von Regierungschef Mario Draghi der Wahlkampf begonnen hat und insbesondere beim Thema Immigration die Töne schärfer werden, hat die Tat von Civitanova unweigerlich zu einer Polemik über die Motive des Täters geführt. Für den Polizeichef von Macerata war es ein banaler Streit wegen einer wohl etwas zu aufdringlichen Bettelei, die den Täter zu seiner „abnormen Reaktion“ getrieben hätten. Mit Rassismus habe die Tat jedenfalls nichts zu tun.

Der Anwalt der Familie des Opfers ist sich da nicht so sicher: „Ich frage mich, ob das Gleiche passiert wäre, wenn es der Täter mit einem Italiener oder einem Amerikaner zu tun gehabt hätte.“ Ob er in diesem Fall das Opfer wegen des „banalen Streits“ auch gleich getötet hätte.

Passanten filmen, statt zu helfen

Seitens der Politik ist die Ermordung des Straßenhändlers einhellig verurteilt worden. „Was in unserer Stadt passiert ist, ist eine beispiellose Gewalttat, die uns geschockt hat“, sagte der Bürgermeister von Civitanova Marche, Fabrizio Ciarapica, der einem Mitte-rechts-Gemeinderat vorsteht. Mehr als einen Tag dauerte es, bis Lega-Chef Salvini sich meldete: „So darf man nicht sterben. Ein Gebet für das Opfer und seine Familie. Für den Mörder die verdiente Strafe bis zum Ende“, twitterte er.

Die Chefin der postfaschistischen Fratelli, Giorgia Meloni, verurteilte die Tat ebenfalls, bezeichnete allerdings einen TV-Journalisten, der eine etwas raschere Distanzierung erwartet hätte, als „Schakal“. Meloni gilt als derzeit aussichtsreichste Kandidatin für die Nachfolge von Mario Draghi an der Regierungsspitze.

Conte entsetzt über Voyeurismus

Im Wahlkampfgetöse fast untergegangen ist die Untätigkeit der Passanten, die der Anwalt der Familie des Opfers als „schaudererregend“ bezeichnet. „Man muss sich schon fragen, wo diese schamlose Gleichgültigkeit herkommt: Es scheint, als gebe es in unserer Gesellschaft keinen Bürgersinn, kein Mitgefühl, keine Solidarität mehr.“ Und natürlich müsse man sich auch fragen, warum die Politik bei diesem allgemeinen Wegschauen ebenfalls wegschaut. Online kursierte ein Video, auf dem zu sehen war, wie der Angreifer sein Opfer am Boden liegend attackierte. Im Hintergrund sind Menschen zu hören, die „hör auf“ oder „rufe jemand doch die Polizei“ schreien.

Der einzige prominente italienische Politiker, der sich entsetzt über den Voyeurismus der Passanten zeigte, war der frühere Regierungschef und heutige Führer der Fünf-Sterne-Protestbewegung, Giuseppe Conte. „Was für eine Gesellschaft wollen wir den Jungen eigentlich hinterlassen?“, fragte der Ex-Premier. Der Angreifer ließ über seine Anwältin mitteilen, dass es ihm Leid tue. Laut „La Repubblica“ will die Anwältin ein Gutachten anfordern, weil ihr Mandant psychische Probleme haben soll.