Der Stein des Anstoßes: eine der beiden Radarfallen an der B 27 Foto: Horst Haas

Mehr als 200 000 Mal haben zwei Radarfallen an der B 27 in wenigen Monaten ausgelöst. Das Amtsgericht Reutlingen kommt mit der Bearbeitung nicht nach – viele Autofahrer könnten deshalb am Ende ohne Strafe davonkommen.

Walddorfhäslach - Die Blitzer an der Bundesstraße 27 in Höhe von Walddorfhäslach (Kreis Reutlingen) werden derzeit zum zweiten Mal zu einem Aufreger. Im vergangenen Jahr galt dort zwischen Mai und September wegen einer Baustelle Tempo 60 – täglich rauschten 1400 Autofahrer in eine der beiden Radarfallen. Viele fühlten sich ungerecht behandelt, weil die Baustelle in zwei Bereiche eingeteilt war und man glauben konnte, dazwischen sei das Tempolimit aufgehoben. Insgesamt 205 000-mal blitzte es in der fraglichen Zeit. Damals ärgerten sich sehr viele Betroffene über das Bußgeld und erhoben Einspruch – und genau das führt nun zu dem Aufreger Nummer zwei.

Denn das Amtsgericht in Reutlingen ist auf eine solche Flut von Einsprüchen personell nicht vorbereitet. Da es bei solchen Verkehrssachen immer eine richtige Verhandlung gibt, ist das Verfahren aufwendig und langwierig. So könnte es dazu kommen, dass viele Verfahren aus Zeitgründen eingestellt werden müssen und die Autofahrer keine Strafe zahlen müssen. Das finden nun viele auch wieder nicht gerecht, außer den Betroffenen natürlich.

Bis zu einem Gerichtstermin können Monate vergehen

Ob aber überhaupt, und wenn ja, wie viele Autofahrer durch die Maschen des Gesetzes rutschen könnten, ist wegen des komplizierten Verfahrens noch offen. Um das besser verstehen zu können, muss man sich den Verwaltungsablauf genauer anschauen: Nachdem jemand geblitzt worden ist, muss das Foto ausgewertet werden, um zu erkennen, ob Halter und Fahrer identisch sein können. Dies hat bei den Blitzern an der B 27 ein externes Büro im Auftrag des Landratsamtes Reutlingen übernommen, weil es so viele Bilder gab. Dann verschickt die Kreisbehörde den Bußgeldbescheid oder versucht zu ermitteln, wer am Steuer saß; da können leicht zwei oder drei Monate vergehen. Der Fahrer hat wiederum zwei Wochen Zeit, gegen den Bescheid Einspruch zu erheben. Daraufhin prüft das Landratsamt, ob der Einspruch zeitlich und formal in Ordnung ist, und schickt ihn danach über die Tübinger Staatsanwaltschaft an das Amtsgericht in Reutlingen.

Das alles dauert – und insofern ist die eigentliche Bugwelle noch gar nicht am Amtsgericht angekommen. Das wird vermutlich erst im Frühjahr der Fall sein. Sebastian Ritter, der Leiter des Ordnungsamtes am Landratsamt, spricht von bisher 1400 bekannten Einsprüchen: „Das nimmt derzeit aber stark zu“, räumt er ein. Es könnten am Ende bis zu 20 000 werden, so eine hausinterne Schätzung.

Die Frage ist letztlich, wie viele dieser Einsprüche das Amtsgericht innerhalb der Verjährungsfrist abarbeiten kann. Friedrich Haberstroh, der Leiter des Amtsgerichts, spricht jedenfalls von einer enormen Herausforderung, die auf das Gericht zukommt. In den vergangenen Jahren hat das Gericht jeweils zwischen 500 und 600 solcher Ordnungswidrigkeitsverfahren zu bewältigen gehabt – 2018 waren es wegen der B-27-Blitzer bereits 892, und es werden 2019 sehr wahrscheinlich deutlich mehr. „Im Moment kann ich aber weder sagen, dass wir es schaffen, noch, dass wir es nicht schaffen“, sagt Haberstroh. Womöglich würden viele ihren Einspruch ja auch noch zurücknehmen. Die Zahl der Bürokräfte sei aber bereits aufgestockt worden, und Haberstroh ist hoffnungsvoll, im Frühjahr einen zusätzlichen Richter zur Verstärkung zu erhalten. Derzeit seien rund 200 Verfahren offen.

Endgültig verjährt ein Bescheid erst nach zwei Jahren

Dass ein Bußgeld in Reutlingen derzeit quasi automatisch verjährt, wenn man Einspruch erhebt, darauf sollte vorerst aber niemand spekulieren, betont der Leiter des Amtsgerichts. Denn die Verjährungsfrist von drei Monaten beim Landratsamt und sechs Monaten am Amtsgericht beginne jeweils von vorne, sobald ein neuer Verfahrensschritt erfolgt sei, also etwa die Zustellung des Bescheides oder die Terminvergabe vor Gericht. Endgültig verjährt sei ein Bußgeldbescheid erst zwei Jahre nach dem Zeitpunkt des Verstoßes: „Es ist also noch ordentlich Zeit bis dahin“, sagt Haberstroh.

Eine grundsätzliche Gerechtigkeitslücke aufgrund einer drohenden Verjährung kann der Ordnungsamtsleiter Ritter derzeit nicht erkennen. Jedem, der Einspruch erhebe, müsse sich auch klar sein, dass es am Ende sehr viel teurer werden könne, etwa, wenn das Gericht einen Sachverständigen bestellt. Im Fall der beiden Blitzer an der B 27 sieht Ritter auch nicht die Wut der Autofahrer als Hauptursache für die hohe Zahl an Widersprüchen – vielmehr sei ein sehr hoher Prozentsatz so schnell gefahren, dass es für diese Autofahrer um mehrere Punkte oder gar um Fahrverbot gehe. Da gebe es auch sonst viele Einsprüche.

Weiterhin werden täglich 200 Autofahrer geblitzt

Dass Bußgeldbescheide verjähren, geschieht auch unter normalen Umständen nicht so selten. Laut Sebastian Ritter seien es meist zehn Prozent. Der Hauptgrund dafür ist, dass der Fahrer nicht (rechtzeitig) ermittelt werden kann – wenn etwa Touristen aus dem Ausland einen Mietwagen leihen und geblitzt werden, ist die Verjährung oft schon eingetreten, bis die Verleihfirma die Daten recherchiert und weitergeleitet hat. Jetzt rechnet Ritter für die B-27-Radarfallen mit einem Verjährungsanteil im „unteren zweistelligen Bereich“. Das ist auf jeden Fall mehr als üblich.

Die Zahl der Autofahrer, die an der B 27 geblitzt werden, ist seit dem Ende der Baustelle von 1400 pro Tag auf im Dezember 205 pro Tag zurückgegangen. Es gibt damit im Landkreis Reutlingen weiterhin keinen anderen Blitzer, der auch nur annähernd so häufig auslöst. Auch bundesweit dürfte es nicht allzu viele in dieser Kategorie geben. Dennoch sieht das Landratsamt langsam ein Stück Normalität einkehren – bei 45 000 Autos pro Tag seien gerade noch 0,45 Prozent zu schnell.

Lukrativ waren die beiden Messgeräte aber auf jeden Fall für den Landkreis: Bis November 2018 hatte das Landratsamt bereits 2,2 Millionen Euro eingenommen, obwohl viele Bescheide noch gar nicht bearbeitet oder rechtskräftig waren. Zum Vergleich: Im gesamten Jahr 2017 lagen die Einnahmen für alle 20 Geräte im Landkreis Reutlingen bei 1,34 Millionen Euro.