Wenn die sehbehinderte Helen Vogt das Haus verlässt, ist Dino bei ihr. Dass der Blindenführhund sehr süß aussieht, lässt manche Menschen glatt vergessen, dass man Arbeitende nicht stören sollte.
Es ist Dienstagmorgen. Dichtes Gedränge in der S5 nach Bietigheim. In den Gesichtern der Fahrgäste steht der Stuttgarter Februar, zwischen Mützen und Schals schauen müde Augen heraus. In Feuerbach steigt eine junge Frau ein, bei sich ein blonder Labrador im weißen Geschirr, der sie bis in die Mitte des Türbereichs lenkt.
Die erste teilnahmslose Maske bei Fahrgästen fällt und weicht mit Blick auf den Hund einem freundlichen Lächeln. Der bleibt bis auf ein kurzes Schnuppern an einer langen Winterjacke konzentriert. Denn der Rüde ist im Arbeitsmodus und das bedeutet: seine Besitzerin ins Büro nach Ludwigsburg bringen. Was sie nicht sehen kann, muss er sehen.
Helen Vogt ist seit der Geburt sehbehindert
Helen Vogt ist seit ihrer Geburt durch einen Gendefekt sehbehindert. Die 32-jährige Personalreferentin hat circa vier Prozent ihrer Sehschärfe, das bedeutet, sie erkennt Umrisse, Hell und Dunkel. Ihr Abitur hat sie noch mit einem dicken Stift geschrieben, über die Jahre ist sie lichtempfindlicher geworden und ihr Sichtfeld weiter geschrumpft. Menschen, die rechts oder links von ihr stehen, bemerkt sie nicht. Seit drei Jahren wird sie von Dino begleitet, einem fünfjährigen Labrador-Golden-Retriever-Mischling und ausgebildeten Blindenführhund.
Claudia Lychacz, die kommunale Behindertenbeauftragte des Landkreises sagt: „Die positive Achtsamkeit untereinander nimmt ab.“ Doch was bedeutet das für Menschen, die auf die Umsicht anderer angewiesen sind? Und warum kann es gefährlich werden, wenn ein Blindenführhund zu viel Aufmerksamkeit bekommt?
Laut statistischem Bundesamt gibt es etwas mehr als eine halbe Million sehbehinderte und blinde Menschen in Deutschland. Blind ist, wem das Augenlicht vollständig fehlt oder wer auf dem besseren Auge nicht mehr als zwei Prozent der Sehkraft besitzt. Die Krankenkasse übernimmt die Kosten für einen Blindenführhund, mittlerweile kostet dieser circa 30 000 bis 35 000 Euro. „Nicht jede Krankenkasse macht das ohne Widerspruch“, sagt Claudia Lychacz, ehemals selbst Besitzerin eines Blindenführhundes. Wenn die Hunde so lange arbeiten können, werden sie zwischen ihrem neunten und elften Lebensjahr pensioniert – danach bleiben sie entweder bei der Halterin oder dem Halter, deren Umfeld oder die Hundeschule sucht nach einer Person, bei der der Blindenführhund seinen Lebensabend verbringen kann. Dino soll jedenfalls bei Helen Vogt bleiben oder zu ihrer Familie ziehen.
Dino sucht Zebrastreifen, Türen und zeigt Treppen an
Es ist Donnerstagabend. Goldene Stunde. Die Bushaltestelle liegt direkt vor dem Büro in der Ludwigsburger Oststadt. Drei Stationen, dann der Umstieg am Ludwigsburger Bahnhof, ein zweiter Umstieg in die Stadtbahn in Feuerbach. Dino kennt den Weg und führt Helen Vogt verlässlich durch das Getümmel, sucht Ein- und Ausgänge, freie Sitzplätze und Zebrastreifen. Zeigt Treppen an und bleibt an Straßenkreuzungen stehen. Alles, was seiner Besitzerin als Hindernis in die Quere kommen könnte, umrundet er – auch wenn er selbst noch darunter durchpassen könnte. Helen Vogt verlässt sich auf Dino und ihre anderen Sinne. Die Lautsprecherdurchsage im Bus, die im Feierabendlärm fast untergeht, der Geruch von Brezeln, der ihr Orientierung verschafft. „Ich kann mich zwar verlaufen, aber ich falle nirgends runter und stürze nicht über irgendetwas, was ich mit dem Blindenstock nicht erfasst habe“, sagt Helen Vogt, als Dino an einem Treppenabgang stehen bleibt.
Die S-Bahn fährt ein. „Eingang“, sagt Helen Vogt zu Dino, der sie zu einer Tür führt. „Einsteigen“, Dino steigt ein. „Bank“, Dino steuert die freien Klappsitze an. „Mitte“, Dino setzt sich zwischen ihre Beine. Der Labrador legt seinen Kopf auf ihren Knien ab. Die Stuttgarterin ist mit einem Hund aufgewachsen, erzählt sie, aber das Verhältnis zu Dino sei anders. Enger. Vertrauter. Es passiert selten, dass die beiden getrennt sind, „und wenn dann vermisse ich ihn direkt“, sagt sie. Sie ist dankbar, dass Dino von den meisten Menschen positiv wahrgenommen wird. Positiver als ein Blindenstock. Doch es bringt auch eine Herausforderung mit sich: Menschen wollen ihn streicheln, locken ihn an – oder füttern ihn mit einer Brezel, wie es Claudia Lychacz erleben musste. „Der Hund ist meine Lebensversicherung, ich muss ihm vertrauen können und diese Basis sollte nicht durch Ablenkung zerstört werden“, sagt die Landratsamt-Angestellte. Im schlimmsten Fall komme es dabei zu einem Unfall. Trägt der Blindenbegleithund ein Geschirr, sollte er ignoriert werden.
Barrierefreiheit stößt bei Planung auf Widerstand
Stattdessen: „Die Person ansprechen und fragen, ob sie Hilfe braucht und welche“, sagt Claudia Lychacz. In ihren Augen nehme die positive Aufmerksamkeit in der Bevölkerung ab und leider habe sie auch bei ihrer täglichen Arbeit noch häufig den Eindruck, Bittstellerin zu sein. Kommunen sind gesetzlich dazu verpflichtet, den öffentlichen Raum barrierefrei zu gestalten. „Begeisterung kommt nicht immer auf, auch weil es ein finanzielles Thema ist“, sagt Lychacz. Bei der Frage, wie barrierefrei gebaut wird, seien viele Abstimmungen nötig und viel Wissenserwerb. Wie machen die weißen Rillen auf dem Boden Sinn? Warum braucht die Treppe Orientierungsstreifen, wenn es eine Rampe gibt? Sei es beim Umbau der Sternkreuzung, des Arsenalplatz oder der Bushaltestellen beim Römerhügel: Die Stadtverwaltung Ludwigsburg bringe ihr Offenheit und Verständnis entgegen. „Von den Menschen, die es planen und umsetzen hingegen, erlebe ich dagegen häufig Abwehr.“
Zuhause, in der Wohnung von Helen Vogt, bringt Dino dem Besuch schwanzwedelnd seine Ente. Das Stofftier mit den orangenen Kordel-Beinen sieht etwas mitgenommen aus, der eine Flügel fehlt. Nach drei Mal Werfen hat er keine Lust mehr und lässt sich lieber mit geschlossenen Augen von Helen Vogt den Bauch kraulen. Feierabend – den hat er sich verdient.
Wo darf der Blindenführhund mit?
Recht
Blindenführhunde sind gesetzlich anerkannte, medizinisches Hilfsmittel.
Zugang
Menschen mit Behinderung, die auf einen Assistenzhund angewiesen sind, darf der Zutritt nicht wegen der Begleitung durch einen Hund verweigert werden. Hierunter fallen auch Arztpraxen, Freizeiteinrichtungen, Friseursalons, Lebensmittelgeschäfte sowie Gastronomie. Als Faustregel gilt: überall, wo man mit Straßenkleidung hin kann, hat auch der Hund Zugang.