Michaela DePrince auf dem Cover ihrer Autobiografie „Ich kam mit dem Wüstenwind“ Foto: Random House

Black America: Der Wandel der afroamerikanischen Identität spiegelt sich in gesellschaftspolitischen Debatten und Kunstformen wie Literatur, Kino oder Popmusik. Heute: Banana Dance war gestern, jetzt gehört schwarzen Tänzerinnen auch die Ballettbühne.

Stuttgart - Die Skala der Diskriminierung ist nach oben offen. Niemand weiß das besser als schwarze Frauen mit dem Wunsch, Balletttänzerin zu werden. Erzählen sie Fremden, dass sie Tänzerin werden möchten, werden sie fast immer mit der Frage konfrontiert: Und was machen Sie? Modern Dance? Hip-Hop?

Schwarz und „Schwanensee“? Das scheinen unvereinbare Pole. Klassisches Ballett steht synonym für eine Leichtigkeit, die sich vogelgleich auf die Spitze erhebt und elegant nach oben schwebt, umrankt von Tülltutus, bekrönt von glitzernden Diademen aus Strass und Federn, ein Traum in Weiß. Die Sprache des Balletts ist französisch, seine Wiege stand im höfischen Milieu, seine Regeln und Figuren sind über Jahrhunderte tradiert, klar definiert folgen sie präzisen Normen.

Tanzformen, die mit afroamerikanischer Kultur in Verbindung gebracht werden, sehen anders aus. Jazz Dance etwa setzt als Abbild der multikulturellen Gesellschaft der USA auf eine große Freiheit der Bewegung; die im Ballett eher statische Körpermitte wird zum Zentrum einer locker kreisenden Bewegung, die Fußarbeit ist rhythmisch, schnell, bodenverbunden.

Josephine Baker tanzte in Paris zu Jazz und Charleston

Der Gegenpol zum ätherischen Spitzentanz am Schwanensee ist bis heute Josephine Bakers Banana Dance. Barbusig trat die amerikanische Tänzerin aus St. Louis 1927 in den Folies Bergères in Paris zur Eroberung der europäischen Tanzbühne an, ließ zu jazzigen Klängen wild die Hüften kreisen und schlenkerte die Knie im Charleston-Stil. Diese Befreiung des Körpers, meist nur von einem wippenden Bananenschurz gebremst, prägt für viele bis heute die Vorstellung davon, was afroamerikanischen Tanz ausmacht.

Schwarz und „Schwanensee“? Michaela DePrince ist eine der wenigen Tänzerinnen, der es gelungen ist, diese Gegensätze zu vereinen. Und das liegt nicht nur daran, dass das vom Wüstenwind herbeigewehte Cover eines amerikanischen Tanzmagazins dem Mädchen in der schlimmsten Zeit seines Lebens Trost spendete. Durch die Kriegshölle von Sierra Leone zur Waise gemacht, schien der kleinen Michaela, die damals noch Mabinty Bangura hieß, die Tänzerin im zartrosa Tutu wie die Botin aus einer besseren Zukunft.

Sind schwarze Mädchen zu athletisch für das Ballett?

„Eines Tages tanze ich auf Zehenspitzen, so wie diese Frau hier. Und dann bin ich genauso glücklich wie sie!“, schwor sich Mabinty, während vor dem Waisenhaus in Makeni die Debils-Rebellen wüten. Ballett als getanzte Form des American Dream? Nachlesen kann man Michaela DePrinces bewegende Geschichte, die auch der Ballettfilm „First Position“ skizziert, in der gemeinsam mit ihrer Adoptivmutter Elaine verfassten Autobiografie „Ich kam mit dem Wüstenwind“.

Als Adoptivkind in den USA wurde für Michaela DePrince tatsächlich die Zukunft Gegenwart und der Traum vom Ballett Wirklichkeit, aber auch Anlass, besondere Formen der Diskriminierung zu erfahren. Warum gibt es so wenige schwarze Ballerinas in den großen klassischen Kompanien? Jeder Ballettdirektor, dem man diese Frage stellt, wird sich elegant herauswinden. Die weißen Mamas in den Ballettschulen nehmen dagegen kein Blatt vor den Mund. Die Vorurteile, mit denen sich schwarze Balletttänzerinnen konfrontiert sehen, kennt Michaela DePrince von Kindesbeinen an und benennt sie präzise. Bei „Nussknacker“-Proben sagte eine Mutter über sie: „Schwarze Mädchen taugen nicht fürs Ballett. Sie sind einfach zu athletisch. Sie sollten das klassische Ballett den weißen Mädchen überlassen und modernen Tanz oder Jazztanz machen. Das ist mehr ihr Ding.“ Jemand aus dem Ballettbetrieb riet Michaelas Mutter davon ab, „so viel Zeit, Geld und Mühe auf schwarze Mädchen zu verschwenden. Spätestens in der Pubertät bekommen sie dicke Schenkel und Hintern und dann können sie kein klassisches Ballett mehr tanzen“.

1996 tanzte Lauren Anderson als erste Afroamerikanerin die Odette/Odile in „Schwanensee“

Die Befreiung, die afroamerikanische Bewegungsformen dem Tanz im Lauf des 20. Jahrhunderts ermöglicht hatten, erweist sich gerade für schwarze Tänzerinnen als schweres Erbe. Zu wenig zart? Zu muskulös? Zu rebellisch? Schwarzen Balletttänzern mögen diese Vorurteile nicht so sehr die Karriere blockieren, ihren dunkelhäutigen Kolleginnen aber umso mehr.

„Michaela hat viel Kraft. Sie tanzt wie ein Tier. Schwarze Tänzer sind einfach so gebaut.“ Über die Vorurteile, die ihr als Kind reichlich Tränen beschert hatten, kann Michaela DePrince heute hoffentlich lachen. Nach Lauren Anderson, die 1996 beim Houston Ballet als erste Afroamerikanerin die Rolle der Odette/Odile in „Schwanensee“ tanzte, und Misty Copeland, die 2015 zur ersten schwarzen Solistin des American Ballet Theatre avancierte, ist sie eine weitere Tänzerin, die beweist, dass Schwarz und „Schwanensee“ keine Gegensätze sind - seit 2015 ist sie Mitglied des holländischen Nationalballetts und macht nicht nur als schwarzer Schwan eine gute Figur.

Sicher: Als einzige schwarze Tänzerin der in Amsterdam beheimateten Kompanie ist Michaela DePrince eine Ausnahmeerscheinung. Solange schwarze „Schwanensee“-Interpretinnen Zeitungsmeldungen wert sind, ist es schwierig, afroamerikanische Identität jenseits der unausgesprochen vorgegebenen Stilgrenzen gerade im Tanz zu leben, weil er ja immer den Körper, also das Trägermedium der Hautfarbe, sichtbar in den Mittelpunkt rückt. Wer eine Hautfarbe hat, die heller ist als die braunen Papiertüten in amerikanischen Supermärkten, so eine Beobachtung von Michaela DePrince, hat entsprechend bessere Chancen.

„Coconut-Identität“ nannte man die Assimilierung von Schwarzafrikanern in der DDR

Lange Zeit waren All-Black-Ensembles für schwarze Tänzer die nahe liegendere Lösung. Das Dance Theatre of Harlem etwa, eine klassische Kompanie, die Arthur Mitchell unter dem Eindruck der Ermordung Martin Luther Kings 1969 gegründet hatte; Mitchell war übrigens der erste schwarze Tänzer des New York City Ballets gewesen. Oder die Kompanie von Alvin Ailey, wobei sich das 1958 gegründete Alvin Ailey American Dance Theatre dem Modern Dance verschrieben hat.

Vielleicht kann die schwarze Ballerina im klassischen Tutu auch für eine Art „Coconut-Identität“ stehen, wie man die Assimilierung von Schwarzafrikanern in der DDR bezeichnete: außen braun, innen weiß. Denken, Wesen, Handeln sind weiß geprägt. So erfährt das Attribut Afro im Ballett als bloße Frage der Oberfläche eine Marginalisierung.