Wohnen im Grünen an der Erisdorfer Straße. Foto: Cedric Rehman

Der Norden des Stadtteils galt lange als abgehängt. Auch dank der engagierter Anwohner hat sich das geändert.

Birkach - Birkach Nord gibt es nicht. Das sagt einer, der es wissen muss. Mehmet Bozdemir engagiert sich in so ziemlich jeder Initiative, die sich um die Belange der Menschen im Norden des Stadtteils kümmert. Er geht die Erisdorfer Straße entlang und grüßt nach links und rechts. „Na, wie läuft es in der Schule?“, fragt er ein Mädchen, das seinen Tretroller den Gehweg entlang schiebt. „Gut, Herr Bozdemir“, lautet die artige Antwort.

Bozdemir wohnt selbst an der Erisdorfer Straße. Er leitet die Lern- und Spielhilfe Birkach. Genug Bedarf dafür gibt es, denn viele kinderreiche Familien leben hier. Kreidemalereien in allen Farben machen den grauen Asphalt an vielen Stellen bunt, und nachmittags sind mehr Kettcars unterwegs als Autos. Doch Bozdemir kümmert sich nicht nur um Bildung für die jüngsten Anwohner. Alle paar Wochen sitzt er als so genannter ausländischer Sachverständiger im Bezirksbeirat. Er darf mitreden, aber nicht mitentscheiden. Seine Stimme erhebt er nicht zuletzt für die Menschen, die mit ihm Tür an Tür leben. Denn die meisten haben wie er noch keinen deutschen Pass oder stammen zumindest aus dem Ausland.

Manche Nachbarn sind mit ihm an der Erisdorfer Straße in den 90er-Jahren groß geworden, damals, als ganz Stuttgart nur vom Ausländergetto in Birkach sprach. Er kann sich erinnern an Zeiten, als Taxifahrer sich weigerten, ihn nachts nach der Disco vor die Haustür zu bringen. „Das tat weh“, sagt er. Auch jenseits der Aulendorfer Straße galt in diesen Jahren, dass die Menschen auf der anderen Seite eben auf der falschen Seite wohnten. Die Erisdorfer Straße setzt sich zwar in Richtung Birkheckenstraße fort, aber es ist etwas völlig anderes, dort zu leben, sagt Bozdemir: „Die Aulendorfer Straße ist eine unsichtbare Grenze zwischen uns.“

Unsichtbare Grenze

Ganz ohne Schranken und Zollhäuschen teilt die Asphaltschlange den Birkacher Norden in zwei Teile und trennt seine Bewohner voneinander. Auf der einen Seite stehen vier Wohnblocks, die sich gleichen, als wären sie aus dem gleichen Stein gemeißelt. Dahinter ragt ein Hochhaus in der Farbe Himmelblau in die Höhe. Das Haus an der Erisdorfer Straße 90 wirkt modern und komfortabel. Doch viele Wohnungen sind öffentlich gefördert, sagt Bozdemir. Sozialwohnung hieß das früher. Das achtstöckige Gebäude grenzt an graue Kästen. Sie sehen aus, als hätten sie noch nie gute Zeiten gesehen. Es sind Fürsorgeunterkünfte der Stadt für Familien, die sonst auf der Straße leben müssten. „Birkach Nord besteht eigentlich aus vier Welten“, sagt Bozdemir. Er meint damit den Teil diesseits und jenseits der Aulendorfer Straße und auf seiner Seite die Wohnblocks, das Hochhaus und die Fürsorgeunterkünfte.

Die Menschen leben für sich

Auf der anderen Seite der Aulendorfer Straße beherrschen würfelartige Wohnhäuser das Straßenbild. Sie sind wesentlich kleiner und weniger wuchtig als die großen Mietshäuser auf der anderen Seite, wo Bozdemir lebt. Auf den Parkplätzen stehen Mittelklassewagen. Und Mittelschicht lebt auch hinter den Gardinen, sagt Peter Hitzelberger. Er vertritt seit 2009 die Katholiken des Stadtteils im Arbeitskreis Birkach Nord und ist wie Bozdemir als Kümmerer unterwegs. Er wohnte seit Mitte der 90er-Jahre im Birkacher Norden, bis er 2011 nach Plieningen umzog. Und er gibt zu, dass er sich anfangs nicht interessiert hat für die Mietblocks auf der anderen Seite. So wie es viele seiner Nachbarn noch heute tun, sagt er.

Bösartigkeit sei das nicht. Es hänge eher damit zusammen, dass für viele Birkach eine reine Schlafstadt sei. Das sei nie vorteilhaft für einen Sinn für Nachbarschaft, sagt Hitzelberger. „Außerdem fehlen die Chancen, sich zu begegnen, ein Laden etwa.“ So ist es auch bis heute geblieben, nur eben nicht für Hitzelberger. Der Mann mit dem weißem Haar und der randlosen Brille und Mehmet Bozdemir mit seinen pechschwarzen Haaren fallen auf, wenn sie durch den Norden Birkachs spazieren. Bozdemir und Hitzelberger sind aber zwei Freunde, die sich beinahe verpasst hätten. Es war eine turbulente Versammlung in der Pallotti-Kirche im Jahr 2001, die Hitzelberger sensibel machte für die Nachbarn auf der anderen Straßenseite. Sie führte zu seinem Engagement im Arbeitskreis. Es ging um die Sanierung der Fürsorgeunterkünfte, in denen sich der Schimmel durch die Mauern fraß, erinnert sich Hitzelberger. „Die Leute sind beinahe aufeinander losgegangen. Wir mussten sie auseinander halten“, sagt er. Ihm dämmerte an diesem Abend, dass sich unmittelbar in der Nachbarschaft Dramen abspielten. „Das hatte ich bisher nicht so wahrgenommen.“

Die wilden 90er

Mit den Dramen ist Mehmet Bozdemir aufgewachsen. Bozdemir kann einen Abend füllen mit Erzählungen über die wilden 90er im Birkacher Norden. Von den Razzien, bei denen die Polizei die Wohnblocks am frühen Morgen abriegelte. Oder von Nachbarn, die einander bedroht haben. „Einmal hat einer aus den Fürsorgeunterkünften ein Luftgewehr auf uns gerichtet, weil wir beim Spielen zu viel Lärm gemacht haben. Wir dachten, die Waffe sei echt und haben uns furchtbar in die Hosen gemacht“, sagt Bozdemir. Heute hört sich das an wie eine Anekdote. Doch die Kiez-Romantik kann die früheren Ängste kaum verbergen. Bozdemir sagt, dass er Glück gehabt hat. Denn seine Familie war intakt und die Freunde einigermaßen vernünftig. Nach seiner Ausbildung hat er daran gedacht, wegzuziehen, weil er die Erisdorfer Straße nicht nur als Wohnort, sondern als Makel empfand. Aber die Eltern wollten bleiben, und die wollte er nicht zurücklassen. „Außerdem haben sich die Dinge nach der Jahrtausendwende langsam geändert“, sagt er.

Bozdemir hat eine Erklärung dafür, dass die Dinge an der Erisdorfer Straße in den 90er-Jahren aus dem Ruder liefen: „Alles ging damit los, dass die Deutschen weggezogen sind“, sagt er. Mit ihnen verschwanden nämlich nicht nur die Schäferhunde. Am Ende entstand, was viele fürchteten und was sie bewogen hat, vorsorglich den Koffer zu packen: ein Getto. Die Stuttgarter Wohnungs- und Städtebaugesellschaft (SWSG) zog Mitte des vergangenen Jahrzehnts die Notbremse und begann ihre Wohnblöcke an der Erisdorfer Straße zu sanieren. Grauer Beton wurde neu und farbig gestrichen, Spielplätze für die Kinder als Alternative zum Rumhängen geschaffen. Die SWSG setzt darauf, dass eine gemischte Klientel in frei werdende Wohnungen zieht. Außerdem fördert sie das ehrenamtliche Engagement der Einwohner wie etwa Bozdemirs Lerninitiative oder das Straßenfest, das der Arbeitskreis Birkach Nord 2008 das erste Mal ausrichtete.

Trotzdem könnte der Birkacher Norden weiter zerfasern, fürchten Bozdemir und Hitzelberger. „Das SWSG-Projekt „Wohnen am Schönbergblick“ an der Aulendorfer und Erisdorfer Straße sehe ich nicht nur mit Zuversicht“, sagt er. Die kastenförmigen Gebäude mit Blick auf den Schönberg sehen aus, als hätte sie jemand aus dem Mittelmeerraum nach Birkach verpflanzt. Viele Balkone sind so großzügig wie Terrassen. Sie wirken wie gemacht für Menschen, die viel Zeit haben, um auf einem Liegestuhl die Sonne zu genießen.

In der Tat könnten einige ihrer Nachbarn unfreiwillig viel Freizeit haben. Weil sie als mittellose Langzeitarbeitslose in die geförderten Wohnungen im gleichen Komplex ziehen. Im Birkacher Norden hat die SWSG schon einmal versucht, Eigentumswohnungen Tür an Tür mit geförderten Wohnungen zu verkaufen: im Hochhaus an der Erisdorfer Straße.

Mit mäßigem Erfolg, sagt Peter Hitzelberger. Die beiden Ehrenamtlichen glauben fest daran, dass die Stadt eine Mischung der sozialen Schichten im Birkacher Norden langfristig steuern muss, um einen Rückfall in die wilden 90er zu vermeiden.

Dabei könnte das Wohnen in der vielfältigen und multikulturellen Umgebung auch einfach bereichernd sein. Und erholsam, findet Bozdemir: „So direkt im Grünen, wo gibt es das schon in Stuttgart? Eigentlich ist es doch wunderschön bei uns.“