Otfried Preußler erprobte als Lehrer die Spannung seiner Geschichten beim Erzählen vor der eigenen Klasse. Foto: Thienemann/Preußler

Zum 100. Geburtstag Otfried Preußlers erscheint die erste Biografie des Kinderbuchautors. Tilman Spreckelsen zeigt in ihr, wie aktuell Preußlers Helden sind.

Vom kleinen Wassermann bis zu Krabat: Otfried Preußler hat uns einige der schönsten Kinderbuchfiguren geschenkt. Sie gehören zum festen Personal vieler Kindheiten, schon die Großeltern der aktuellen Leserschaft fürchteten sich vorm Hotzenplotz und fieberten mit dem kleinen Nachtgespenst.

 

Zu Klassikern wurden Preußlers Bücher, weil seine Helden zeitlose Werte verkörpern. Wie lässt sich Mitgefühl oder Hilfsbereitschaft am besten begreifen? Das Angebot, das Preußler mit Figuren wie der kleinen Hexe machte, steckt voller Menschenliebe.

Franz Josef Tripp illustrierte „Das kleine Nachtgespenst“. Foto: Thienemann/Tripp

Wie schwer das Gelände auf dem Weg zum weisen Erzähler war, ist eine der Entdeckungen, die Tilman Spreckelsens Biografie „Otfried Preußler. Ein Leben in Geschichten“ möglich macht. Sie ist Teil des Jubiläumsprogramms, mit dem der Thienemann-Verlag seinem Autor gratuliert, der am 20. Oktober 100 Jahre alt geworden wäre.

Aus der Perspektive einer Vogelscheuche

Spreckelsen zeigt auf, wie sich im knapp 90-jährigen Leben des im nordböhmischen Reichenberg (das heutige Liberec) Geborenen exemplarisch deutsche Zeitgeschichte spiegelt und das Thema Vertreibung Preußlers Werk durchdringt. Zudem holt er Bücher ins Rampenlicht, die im Schatten der großen Stars standen. Zu entdecken ist etwa die aus ungewöhnlicher Perspektive erzählte Geschichte „Thomas Vogelschreck“.

Preußlers „ganz böses Buch“

Licht bringt Spreckelsen auch in eine Ecke, welche die autobiografische Texte-Sammlung „Ich bin ein Geschichtenerzähler“ im Dunkeln belassen hatte. Der Preußler habe „ein ganz böses Buch geschrieben“, warnte DDR-Autor Franz Führmann dessen Verleger einmal bei einer Tagung. Gemeint war „Erntelager Geyer“, Preußlers Anfang der 1940er Jahre erschienenes Debüt über einen Arbeitseinsatz der Hitlerjugend. Auf „der Linie der NS-Ideologie“ verhandle Preußler seinen Braunhemden-Roman, resümiert Spreckelsen.

Aus dem Frühwerk spricht die Begeisterung, mit welcher der knapp Zwanzigjährige kurz darauf in den Krieg zog. Als bekanntem Schriftsteller blieb ihm für diese Haltung später ein Shitstorm erspart; schließlich stand Preußler mit seinen Kinderbüchern inzwischen für andere Werte. „Krabat“ erzähle „quer durch alle Figuren von Verführung, Macht, Ohnmacht und Todesangst“, schreibt Spreckelsen, „tatsächlich trägt die Herrschaft des Müllers Züge eines totalitären Systems“. Er zitiert den Autor selbst, der „Krabat“ als Erwachen eines jungen Mannes beschrieb: „Es ist zugleich meine Geschichte, die Geschichte meiner Generation, und es ist die Geschichte aller jungen Leute, die mit der Macht und ihren Verlockungen in Berührung kommen und sich darin verstricken.“

An der Front in der Ukraine

Diese Geschichtsstunde hatte Preußler, der die Schrecken des Kriegs an der Front in der Ukraine und als russischer Gefangener fünf Jahre lang erleben musste, bevor er seine vertriebenen Angehörigen 1949 in Rosenheim wiederfand, zu einem Baumeister der Versöhnung gemacht. Auf Reisen nach Liberec und bis nach Russland, bei Treffen mit Kollegen und bei der Vermittlung ihrer Werke half er, alte Gräben zuzuschütten.

Annelies und Otfried Preußler kurz vor ihrer Hochzeit 1949 Foto: Thienemann/privat

Die von Deutschen und Tschechen in seiner alten Heimat verpassten Chancen waren Preußler ein Mahnmal. Spreckelsen zeigt, wie Preußler über gutes Zusammenleben bereits in seinem ersten Kinderbuch nachdachte: Der kleine Wassermann bemitleidete die Menschen erst wegen ihrer Defizite, um später „mit ihnen über alle Unterschiede hinweg Freundschaft zu schließen“. Dann sind da die Bürger aus „Bei uns in Schilda“, die als Gemeinschaft eine Entwicklung in Gang setzen, schreibt Spreckelsen, „die mit dem eigenen Exodus endet“. Unterschiede in Sprache und Herkunft, so ein Thema in „Flucht nach Ägypten“, dürften kein Hindernis einer Annäherung sein.

Facetten einer Persönlichkeit

Wenn Spreckelsen die großen Themen in Preußlers Werk zu Beginn absteckt, ist es nicht immer leicht, ihm zu folgen. In der Chronologie fügen sich dann die Facetten zu einem stimmigen Bild. Da ist der Sohn, der bei Wanderungen mit seinem Heimatforscher-Vater in Böhmen Sagen sammelt wie andere Pilze. Da ist der Schriftsteller, der zeitlebens von diesem Schatz profitierte. Da ist der Lehrer, der die Tradition des oralen Erzählens vor den Schülern perfektioniert und später seine Bücher in ein Diktiergerät spricht. Da ist das Familienoberhaupt, das fünf Bäuche mit dem Schreiben füllen muss.

Spreckelsen erkundet zudem die sorbische Sagenwelt und sensibilisiert für das Besondere im Erzählen Preußlers, der Naturwesen menschliche Dimensionen gibt und „die Perspektive des kleinen, eher ohnmächtigen Wesens“ einnimmt. Dass sich gerade an seinem Werk in den 1970er Jahren die Eskapismus-Debatte entzündete, hat Preußler tief verletzt. Zu viel heile, fantastische Welt? Die kleine Hexe, die frech Hierarchien auf den Kopf stellt, der kleine Wassermann, der auch Umweltproblematiken anspricht, sehen bis heute ziemlich jung aus.

Erfolg als Geschichtenerzähler

Buch
Tilman Spreckelsens Biografie „Otfried Preußler. Ein Leben in Geschichten“ (304 Seiten. 29 Euro) erscheint am 30. August im Thienemann-Verlag.

Jubiläum
Der Stuttgarter Verlag, in dem 1956 bereits Preußlers erstes Kinderbuch „Der kleine Wassermann“ erschien, begleitet den 100. Geburtstag des Autors mit mehreren Veröffentlichungen, darunter eine Neuausgabe von „Krabat“, für die der Künstler Mehrdad Zaeri in dunklen Bildern dem Abenteuer des Zauberlehrlings nachspürt.

Autor
Als Otfried Syrowatka am 20. Oktober 1923 in Nordböhmen geboren, veröffentlichte er seinen Debütroman „Erntelager Geyer“ unter dem vom Vater geänderten Nachnamen Preußler. Nach dem Krieg hielt sich der Autor mit Zeitungsartikeln, Aufsätzen und Theaterstücken über Wasser; der Erfolg kam mit dem ersten Kinderbuch: 1956 wurde „Der kleine Wassermann“ mit dem deuschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. „Die kleine Hexe“ (1957), „Bei uns in Schilda“ (1958), „Der Räuber Hotzenplotz“ (1962) und „Das kleine Gespenst“ (1966) festigten Preußlers Ruf als großer Geschichtenerzähler; „Krabat“ (1971) krönte ihn. Preußler starb 2013, „Kinder brauchen Geschichten“ steht auf seinem Grab.