In Baden-Württemberg wurde zu lange zu wenig Wert auf guten Unterricht gelegt, kritisiert ein Bildungsforscher. Foto: dpa

Der Tübinger Bildungsforscher Ulrich Trautwein leitet den neuen wissenschaftlichen Beirat, der die baden-württembergischen Schulen wieder nach vorn bringen soll. Doch es werde Jahre dauern, Versäumtes nachzuholen, warnt er im Interview.

Stuttgart - Der Tübinger Bildungsforscher Ulrich Trautwein kritisiert im Interview, dass Baden-Württemberg nie in die Qualitätssicherung der Schulen eingestiegen sei. Es werde Jahre dauern, Versäumtes aufzuholen. Renate Allgöwer

Herr Trautwein, sind die baden-württembergischen Schulen wirklich so schlecht, wie es im Moment den Anschein hat?
Die Ergebnisse einer Reihe von Studien weisen darauf hin, dass die Situation tatsächlich sehr ernst ist. Baden-Württemberg erlebte eine lange Phase der Stagnation, während andere Bundesländer teilweise deutliche Leistungszuwächse aufwiesen. Inzwischen scheinen die Leistungen sogar schwächer zu werden. Hinzu kommt in Baden-Württemberg eine erschreckend große Risikogruppe von leistungsschwachen Schülerinnen und Schülern.
Was ist schiefgelaufen?
Das genau ist schwer zu sagen und Teil des Problems. In Baden-Württemberg fehlt es an aussagekräftigen Daten zum Schulsystem, und wo sie existieren, kann man sich nicht darauf verlassen, dass sie sinnvoll genutzt werden. Einige Beispiele: Wir haben jahrelang die Daten aus Vergleichsarbeiten erhoben, aber wenig damit angefangen. Im Vergleich mit anderen Bundesländern hatten wir in Baden-Württemberg in den vergangenen 15 Jahren eine Reformwut, bei der auf eine systematische Begleitung und Evaluation der Reformergebnisse verzichtet wurde. Gleichzeitig gab es auch einen Reformstau, besonders in Bezug auf die systematische Verbesserung von Unterrichtsqualität.
Was wurden sonst noch für Fehler gemacht?
Die Stagnation wurde lange Zeit nicht wahrgenommen, teilweise sogar bestritten. Viele Schulen haben Qualitätsverletzungen toleriert, die Schulaufsicht wurde zum zahnlosen Tiger degradiert. Bei der im Prinzip sinnvollen Fremdevaluation von Schulen zählte ein als innovativ wahrgenommener Unterricht mehr als die tatsächliche Leistung der Schüler. Investitionsentscheidungen auf Landesebene fielen zu oft nach Bauchgefühl oder in der Hoffnung auf politische Geländegewinne.
Zum Beispiel?
Mit der Verringerung der Klassengröße erfreute man Lehrer und Eltern, aber sie ist eher teuer als wirksam. Auch bei der Einführung der Gemeinschaftsschule hätte man einige Fehler vermeiden oder schneller korrigieren können, wenn man wissenschaftliche Erkenntnisse von Anfang an ernst genommen hätte. Insgesamt fehlte im Land zu lange der Wille und die Fähigkeit, die Qualität von Lernprozessen systematisch zu erfassen und zu verbessern.
Warum ist man bisher davor zurückgeschreckt, den Erfolg zu messen?
Die Messung ist komplex und schwierig. Auch Qualitätssicherung im Bildungswesen muss erlernt werden. Baden-Württemberg ist nie richtig eingestiegen. Hamburg, Bayern und Schleswig-Holstein waren da schneller. International kann man Singapur, Kanada oder Finnland als Vorbilder nennen.
Das Kultusministerium hat nun einen Beirat etabliert, der die Qualitätsentwicklung begleiten soll. Sie sind der Vorsitzende. Was kann der Beirat tun?
Der Beirat wird die Umsetzung des Qualitätskonzepts kritisch konstruktiv begleiten. Alle Beiratsmitglieder betrachten eine gelingende Evidenzorientierung als Kernprinzip ihrer Arbeit. Wir müssen systematisch und fortlaufend prüfen, was wirklich zu gelingenden Bildungsprozessen führt und wie bildungspolitische Ziele erfolgreich umgesetzt werden können. Also: Mehr Daten und deren sorgfältige Interpretation, weniger Anekdoten, Ideologie und Bauchgefühl. Wir wollen nicht den Streit über den richtigen Weg im Bildungssystem überflüssig machen. Aber es ist nicht in Ordnung ,wenn der Wertediskurs und die Effektivitätsfrage vermischt werden. Letztere ist das Arbeitsfeld des wissenschaftlichen Beirats.
Es wird zwei neue Institute geben. Was können diese leisten?
Die neuen Institute werden, so unsere Hoffnung, erstens zu einer besseren Entscheidungsgrundlage beitragen, da sie Wissen über gelingende Schulsysteme, erfolgreiche Schulen und funktionierenden Unterricht systematisieren und generieren, und zweitens auf allen Ebenen des Bildungssystems dazu beitragen, dass vermehrt solche Unterstützungsmaßnahmen angeboten werden, die sich als tatsächlich wirkungsvoll erwiesen haben.
Liegen überhaupt ausreichend Forschungsergebnisse vor?
Die Benennung der Defizite und Wege zu ihrer Überwindung ist Teil unserer Beratungstätigkeit und wird Aufgabe der neuen Institute sein. Ein Beispiel: Es gibt kaum Daten darüber, nach welchen Methoden in Baden-Württemberg Unterricht gestaltet wird. Wenn wir in den Grundschulen rasch die Orthografie der Schüler verbessern wollen, spielt sicher Lehrerfortbildung eine Rolle. Aber wir können nicht einmal sagen, welche Fortbildungen sich als besonders gut erwiesen haben.
Die Erwartungen an die Qualitätsverbesserung sind enorm. Stehen Sie unter Zeitdruck?
Hamburg hat vor mehr als zehn Jahren mit systematischen Qualitätssicherungsprozessen angefangen. Die Ergebnisse sieht man erst in jüngerer Vergangenheit. Selbst wenn man jetzt intensiv und erfolgreich umsteuert, dürften Jahre vergehen, bis Baden-Württemberg wieder den Anschluss an die Spitze findet.
Was verbessert den Unterricht wirklich?
Zunächst einmal gibt es keine Belege dafür, dass es eine einzige beste Methode gibt. Die Forschung hat drei große Qualitätskriterien identifiziert. Der erste Faktor ist die Klassenführung. Wie viel Zeit steht tatsächlich für den Unterricht zur Verfügung und wie viel geht verloren, weil die Lehrkraft schlecht vorbereitet ist oder Schüler undiszipliniert Unsinn treiben? Der zweite Faktor ist die kognitive Aktivierung. Wie gut gelingt es, Schüler wirklich zum Nachdenken zu bringen? Fachfremd erteilter Unterricht scheitert oft daran. Der dritte Bereich ist die konstruktive Unterstützung des Lernprozesses durch die Lehrkraft. Nimmt ein Schüler wahr, dass die Lehrkraft wirklich an seinem Lernfortschritt interessiert ist und sie ihn unterstützt? Entscheidend ist, wie eine Lehrkraft den Unterricht mit verschiedenen Lernformen orchestriert, damit diese drei Ziele erreicht werden können.
Bedeutet das für die Zukunft, dass man die Lehrer besser unterstützen muss?
Man muss sich bei jeder Reform überlegen, welche Konsequenzen sie für den Unterricht hat. Was den Unterricht tatsächlich verbessert, sollte Priorität bekommen.