Studierende des Campus Tuttlingen sind eng an die Unternehmen angebunden – hier machen sie ein Praktikum beim Endoskophersteller Karl Storz. Foto: Hochschule Furtwangen

Immer mehr Städte im Land, auch kleinere, etablieren sich als Hochschulstandort, so Freudenstadt oder Tuttlingen. Unternehmen, die Fachkräfte brauchen, und lokale Politiker ziehen dabei an einem Strang. Nur das Ministerium sträubt sich manchmal.

Tuttlingen/Freudenstadt - Ziemlich nervös sitzen die Studenten Derrick und Sebastian im Treppenhaus des Hochschulcampus Tuttlingen und büffeln Antriebstechnik – bald ist Prüfung. Gar nicht nervös sind sie dagegen, was ihre Berufsaussichten angeht. „Wir haben in Tuttlingen engen Kontakt zu vielen Unternehmen, das wird später bei den Bewerbungen helfen“, sagt Sven: „Anderswo ist man dagegen am Ende des Studiums doch nur eine Nummer.“

Vor neun Jahren ist der Campus in Tuttlingen gegründet worden, und der Impuls kam damals eindeutig aus der Wirtschaft – mit 1500 Firmen, davon 600 in der Medizintechnik, gehört Tuttlingen zu den wirtschaftsstärksten Regionen des Landes. Die Betriebe wollen Fachkräfte halten und anlocken, und sie wollen vom Wissen der Hochschulen profitieren.

Überhaupt ist das neue Jahrtausend in Baden-Württemberg von einem großen Bildungsaufschwung geprägt, zumindest bei den Hochschulen. Die Ursache liegt in den lange ansteigenden Studentenzahlen – bis zu 20 000 neue Studienplätze (bei derzeit insgesamt 360 000) hielt das Land vor gut zehn Jahren für notwendig und hat dafür kräftig die Schatulle geöffnet. So entstanden seit 2000 insgesamt 23 neue Hochschulen und Universitäten. 15 sind in privater Trägerschaft, aber staatlich anerkannt. Und immerhin acht wurden in Städten gegründet, die zuvor keine akademische Tradition hatten – das sind Bad Mergentheim, Schwäbisch Hall, Bad Liebenzell, Calw, Böblingen, Freudenstadt, Tuttlingen und Überlingen. Mittlerweile bleibt die Zahl der Neuanfänger aber stabil oder sinkt sogar leicht: „Nach der starken Ausbauphase des letzten Jahrzehnts steht jetzt die Konsolidierung des Erreichten im Vordergrund“, sagt Denise Burgert vom Ministerium für Wissenschaft und Kunst.

Impuls für die Gründung kam fast immer aus der Region

Gründungsidee, Struktur und Finanzierung dieser neuen Standorte sind sehr verschieden. So hat beim Campus in Freudenstadt, der 2019 fertig werden soll, zum ersten Mal im Land eine Universität einen Ableger gebildet. Nach offizieller Lesart ist Freudenstadt aber nur ein „Vorlesungsstandort“ der Uni Stuttgart, was bedeutet: Es gibt kein Geld vom Land. Bad Mergentheim gilt als ein Standort der Dualen Hochschule, und Tuttlingen firmiert als „Außenstelle“ der Hochschule Furtwangen.

Überblickt man die Neugründungen, so kam der Impuls dafür fast immer aus den Regionen, und sehr häufig ist der Wunsch nach einer engen Verbindung von Hochschule und Wirtschaft der Nukleus eines neuen Campus gewesen. Fast logisch erscheint es deshalb, dass vor allem betriebswirtschaftliche und technische Studiengänge eingerichtet wurden. Bei der privaten Zeppelin-Universität in Friedrichshafen etwa stand am Anfang der Beschluss des Gemeinderates, eine Bildungsinitiative zu starten. Und in Tuttlingen oder Freudenstadt bringen sich Firmen mit viel Geld in den laufenden Betrieb der Hochschule ein.

In Tuttlingen zahlen 100 Firmen jährlich 2,5 Millionen Euro

Herausragend ist das Engagement von mehr als hundert Firmen in Tuttlingen: Sie haben sich in einem Förderverein zusammengeschlossen und garantieren jährlich eine Summe von bis zu 2,5 Millionen Euro. Das Land schießt jedes Jahr 1,7 Millionen Euro aus dem Ausbauprogramm „Hochschule 2012“ zu. Den ursprünglichen Campus im Stadtzentrum – eine alte Fabrik wurde modernisiert – finanzierten mit 10,5 Millionen Euro Stadt und Landkreis. Maßgeblich vorangetrieben hatte den Standort übrigens der damalige CDU-Landrat, der Guido Wolf heißt und heute Justizminister ist. Für Tuttlingen hat sich seither eine Win-win-win-Situation ergeben. Die Unternehmen holen die Studenten früh in die Betriebe und versuchen sie zu binden. „Das kooperative Lehrmodell ist ein unschätzbarer Vorteil“, sagt etwa Matthias Padelt, der Geschäftsführer einer kleineren Firma in Tuttlingen. Die Stadt erlebt einen gewissen Aufschwung durch die Studierenden. Und die jungen Leute selbst erhalten in Tuttlingen eine vorzügliche Ausbildung. Selbstbewusst führt Professor Hadin Jovein-Mozaffari das Werkstofflabor vor – dort befinden sich Geräte wie ein Röntgendiffraktometer. Nach einer solchen Ausstattung würde sich manche Universität die Finger schlecken.

Tuttlingen boomt, im Kleinen zumindest. Mit 105 Plätzen hat man angefangen, jetzt sind es 650 Studierende. Unter den acht Studiengängen gibt es welche wie die Ingenieurpsychologie, die man in dieser Form bundesweit nicht findet. Studieninhalt ist nicht, wie Professor Stephan Messner erläutert, das Wohlbefinden des Ingenieurs, sondern die Entwicklung von Maschinen, die intuitiv bedient werden können und menschenfreundlich sind. Besonders ist auch, dass die Unternehmen ihre Wünsche einbringen können, wenn es darum geht, die Studiengänge weiterzuentwickeln. „Aber die Freiheit der Lehre bleibt gewahrt“, betont Hochschulrektor Rolf Schofer: „Am Ende entscheiden allein unsere Gremien.“

Nur das Nachtleben von Tuttlingen ist nicht berauschend

Wie erfolgreich die Hochschule wirklich ist, das lässt sich noch nicht in Zahlen ausdrücken; erst 2013 haben die ersten Absolventen ihre Karriere begonnen. Aber Schofer ist sich sicher, dass die Betriebe zufrieden sind – sonst hätten sie die Kooperation nicht vor Kurzem verlängert. Die Studenten sind es auch; nur dass es keine Mensa gibt, stört manche. Aber dafür ist der Standort schlicht zu klein. Und Sven bedauert auch, dass sich das Nachtleben von Tuttlingen sehr in Grenzen hält.

Bei diesen Perspektiven ist es kein Wunder, dass viele Städte Hochschulstandort werden wollen. Doch da steht das Land mittlerweile auf der Bremse. Seit 2000 sind neue staatliche Standorte nur noch möglich, wenn Stadt, Kreis oder Privatleute die Gebäude und die Infrastruktur bieten. Und was Universitäten anbetrifft, so ist der Ausspruch der Ministerin Theresia Bauer (Grüne) verbürgt, dass ja nicht in jedes Dorf eine Universität kommen könne. Gefallen ist das Wort im Ostalbkreis – seit Langem versucht man dort und bislang vergebens, zusätzlich einen Universitätsstandort aufzubauen, vor allem, um auch jungen Frauen Angebote zu machen, etwa Studienfächer wie Erziehungswissenschaften oder Psychologie.

Wer das will, muss also ganz auf private Geldgeber setzen. Friedrichshafen ist diesen Weg gegangen. Die Zeppelin-Universität wird vor allem von der Zeppelin-Stiftung und großen Firmen finanziert. Ihre Vision ist es, Studierende auszubilden, die sich zwischen Wirtschaft, Kultur und Politik bewegen und das Ganze im Blick haben. In Heilbronn baut die Stiftung des Lidl-Gründers Dieter Schwarz seit 2011 mit gewaltigen Summen einen großen Bildungscampus auf, wo schon jetzt 2300 junge Menschen studieren. Vor wenigen Tagen schloss der Campus zudem mit der Technischen Universität München eine Vereinbarung – die Stiftung finanziert künftig 20 Professuren auf Universitätsniveau. Auch das ist übrigens ein Novum: Erstmals engagiert sich eine Universität in Deutschland außerhalb ihres Bundeslandes.

Freudenstadt sieht den Campus als Jahrhundertchance

Auch Freudenstadt hat in Kauf genommen, dass das staatliche Füllhorn geschlossen bleibt. Denn man „brauche Mitarbeiter auf Exzellenzniveau“, sagt der IHK-Geschäftsführer Martin Wexel; der Anschluss an eine Universität habe Priorität, weil man im Schwarzwald nicht nur Fach-, sondern auch Führungskräfte ausbilden wolle. Demnächst soll am Bahnhof ein Gebäude der EnBW teils abgerissen, teils umgebaut werden. Stadt und Landkreis übernehmen die Kosten. Für den Freudenstädter OB Julian Osswald ist der Campus eine „Jahrhundertchance“, andere sprechen von der Hochschule als „Kraftzentrum der wirtschaftlichen Entwicklung“.

Doch es dürfte künftig schwieriger werden, eine Hochschule zu etablieren. Das liegt an den stagnierenden Studentenzahlen, aber auch daran, dass Wissenschaftsrat und Ministerium eine Mindestgröße von 1000 Studierenden für notwendig halten, um auf Dauer die geforderte Lehrqualität zu halten. Und es liegt an grundsätzlichen Erwägungen: „Baden-Württemberg verfügt schon heute über eine außerordentlich dezentrale Hochschulstruktur, um die uns viele Bundesländer beneiden“, sagt Denise Burgert. Und fügt hinzu: „Planungen für neue Hochschulen gibt es derzeit nicht.“