Verlierer der Wiedervereinigung: Kumpel des Kaliwerks Bischofferode sind im Juli 1993 wegen der Empfehlung des Treuhand-Ausschusses, die Kaligrube Bischofferode zu schließen statt zu privatisieren, in einen Hungerstreik getreten. Foto: dpa/Ullstein Bild Foto:  

Erfolg oder Fehlschlag? Auch 30 Jahre nach dem Mauerfall klafft ökonomisch eine deutliche Kluft zwischen Ost und West. Dennoch bleibt die Wiedervereinigung auch aus wirtschaftlicher Perspektive eine stolze Leistung.

Berlin - Ist die böse Treuhand schuld? Oder skrupellose Manager aus dem Westen, die den Osten kolonialisiert und ausverkauft haben? An pauschalen, oft platten Urteilen hat es zuletzt nicht gefehlt, wenn es um die durchwachsene Bilanz beim Aufbau Ost geht. In den Landtagswahlkämpfen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen waren viele scharfe Töne von links und rechts zu hören. Die Erfolge der AfD scheinen Umfragen zu bestätigen, wonach 30 Jahre nach dem Mauerfall nicht wenige Ostdeutsche unzufrieden sind und sich abgehängt fühlen. Doch so einfach ist die Sache nicht.

 

Es gibt unterschiedliche Ursachen für den verbreiteten Missmut

Für den verbreiteten Missmut vieler Bürger auch im Westen gibt es viele Ursachen. Die gesamtökonomische Entwicklung kann jedoch kaum die entscheidende Rolle spielen. Denn Deutschland steht wirtschaftlich viel besser da als fast alle anderen Länder in Europa. Nach einer langen Wachstumsphase seit der Finanzkrise herrscht in vielen Regionen nahezu Vollbeschäftigung. Wohlstand und Vermögen der Nation sind größer denn je. Hängt Ostdeutschland wirklich so weit hinterher, wie es oft behauptet wird? Wer in den Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Einheit schaut, stellt fest: Die Wirtschaftskraft zwischen Rostock und Chemnitz ist von 1990 bis 2018 von mageren 43 auf 75 Prozent des westdeutschen Niveaus gestiegen. Bruttolöhne und verfügbare Einkommen liegen bei 85 Prozent, die Kaufkraft ist sogar noch höher. Die Ostrenten sind zudem kaum niedriger, bei Paaren sogar oft höher. So schlecht sieht es also nicht aus. Zumal der Vergleich sportliche Maßstäbe ansetzt. Denn eine vor 30 Jahren hoffnungslos abgewirtschaftete sozialistische Planwirtschaft wird an der schon damals stärksten Wirtschaftsnation Europas gemessen.

Verklärendes Schönreden hilft nicht

Realistischer ist ein Vergleich mit der Europäischen Union. Hier hat Ostdeutschland allein fast den Durchschnitt aller Länder erreicht, wie die Bundesregierung betont. Das ist eine beachtliche Leistung – trotz aller unstrittigen Fehlschläge beim Aufbau Ost. Es war nicht alles schlecht in der DDR, das stimmt. Doch die traurige historische Wahrheit ist, dass das totalitäre SED-Regime 1989 einen Pleitestaat hinterlassen hat und neben dem ökonomischen auch ein ökologisches Desaster.

Da hilft kein verklärendes Schönreden. Die DDR-Wirtschaft war am Ende, der Staat bankrott, der Sozialismus auf ganzer Linie gescheitert. Zwar galt die DDR einst als zehntstärkste Industrienation der Welt. Doch die Realität hinter den Todesstreifen und dem Stacheldraht sah ganz anders aus. Der schleichende Niedergang währte Jahrzehnte, bis immer mehr Menschen die Geduld verloren, sich vom System und von seiner Mangelwirtschaft abwandten und die friedliche Revolution auf den Straßen wagten.

Nach Mauerfall wurde das Ausmaß des Desasters deutlich

Als die Mauer fiel, offenbarte sich das ganze Ausmaß des Desasters. Viele DDR-Firmen glichen Industriemuseen, die Infrastruktur war marode und rückständig, selbst historische  Altstädte hat das Regime dem Verfall preisgegeben. Helmut Kohl versprach dennoch bald blühende Landschaften und gleiche Lebensverhältnisse. So gewann der Kanzler der Einheit zwar die erste gesamtdeutsche Wahl – setzte damit aber die Latte und die Erwartungen der Ostdeutschen unerreichbar hoch. Denn an diesem Versprechen wird der Aufbau Ost seither von vielen gemessen. Da ist Enttäuschung programmiert.

Niemand sollte aber vergessen, welch gigantische Finanzhilfen von West nach Ost geflossen sind. Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags beziffert allein die Nettotransfers bis 2018 auf sagenhafte 1600 Milliarden Euro, die der Solidarpakt I und II, der Fonds Deutsche Einheit und die Rentenzahlungen kosteten. Der deutsche Sozialstaat bewahrte zudem Millionen Ostdeutsche vor dem Fall ins Nichts. Zeitweise lag die Arbeitslosenquote über 18 Prozent, heute liegt sie gerade noch bei einem Drittel davon. In vielen Regionen herrscht inzwischen wie im Westen extremer Fachkräftemangel, auch weil zwei Millionen Menschen ihre Heimat verlassen haben. Inzwischen kehren aber immer häufiger Ostdeutsche in ihre alte Heimat zurück. Die Infrastruktur wurde mit riesigem Aufwand erneuert. Gigantische Fördersummen waren auch nötig, um die rückständige DDR-Kombinats- und Kommandowirtschaft durch wettbewerbsfähige Strukturen zu ersetzen.

Es gibt inzwischen viele Rückkehrer

Beim Umbau und bei der Privatisierung hat die Treuhand fraglos viele Fehler gemacht und zu wenig auf Sanierung gesetzt. In extremen Fällen wurden Firmen an Blender verschleudert, die nur Subventionen und Grundstücke abgreifen oder Konkurrenten abwickeln wollten. Wahr ist aber auch: Bei vielen Betrieben gab es nichts mehr zu retten. Das Urteil über den Aufbau Ost bleibt eine Frage des Blickwinkels. Den „Osten“ gibt es dabei ebenso wenig wie den „Westen“. Zwischen den Ostseeküsten Mecklenburg-Vorpommerns und dem Erzgebirge in Sachsen existieren so viele regionale Besonderheiten wie zwischen Sylt und Garmisch-Partenkirchen.

Weiter am Finanztropf des Westen

Gemessen an der desaströsen Ausgangslage steht das Gebiet der ehemaligen DDR heute erstaunlich gut da. Hinsichtlich der enormen Kosten hätte sicher an vielen Stellen viel mehr erreicht werden können und müssen. Gemessen am Westen oder gar an den einst großen Versprechen bleibt eine Kluft, die sich auf absehbare Zeit nicht schließen wird. Ostdeutschland hängt weiter am Finanztropf des Westens. Die Verschuldung der fünf neuen Länder und Berlins ist hoch, die Wirtschafts- und Steuerkraft viel zu gering, um auf eigenen Beinen stehen zu können. Große Teile der ostdeutschen Einnahmen stammen bis heute aus dem auslaufenden Solidarpakt II und dem bundesdeutschen Finanzausgleich, der von wenigen ökonomisch starken Ländern wie Bayern, Baden-Württemberg und Hessen finanziert wird.

Im kommenden Jahr wird es neue Verteilungsregeln geben. Der Osten soll dann keine bevorzugte Behandlung mehr bekommen. Denn auch im Westen gibt es strukturschwache Regionen und hoch verschuldete Städte wie im Ruhrgebiet, die lange Zeit den Aufbau Ost mittragen mussten und selbst große soziale und finanzielle Probleme haben. Auch hier wächst die Kluft, die Politik muss viel stärker und gezielter gegensteuern und für Ausgleich der Lebensverhältnisse zwischen Stadt und Land sorgen. Noch einmal: Es geht um gesamtdeutsche Probleme, um gemeinsame Lösungen. Das Denken in Ost-West-Kategorien hilft da längst nicht mehr weiter.