Da schaut auch Sieger Martin Fourcade (rechts) ganz genau hin: Simon Schempp fehlen nur wenige Zentimeter zur Goldmedaille Foto: AP

Was sind schon 15 Zentimeter? Nicht viel. Aber bei Olympia können sie entscheidend sein: Der Biathlet Simon Schempp aus Uhingen unterliegt in einem dramatischen Spurt im Massenstart dem Franzosen Martin Fourcade – aber der 29-Jährige feiert Silber wie Gold.

Pyeongchang - Eine halbe Fußlänge. 15 Zentimeter ungefähr. Diese lächerliche Distanz hat Simon Schempp nach 15 000 Metern zur Goldmedaille gefehlt. Das ist in etwa so, als marschiert ein Rekordjäger die 8851,8 Kilometer lange Chinesische Mauer entlang – und vor dem allerletzten Schritt verlassen ihn die Kräfte, und er stürzt. So in etwa war das am Sonntag.

Im Endspurt gegen Martin Fourcade hatte der Uhinger in einem dramatischen Massenstart-Duell alles, wirklich alles gegeben, doch der Franzose hatte (wie so häufig) das bessere Ende für sich. „Ich kann sehr stolz sein, dieses Rennen gewonnen zu habe“, sagte Fourcade. War der Mann aus den Pyrenäen im Sprint das entscheidende My cleverer? Oder war es einfach nur Glück, weil Schempp den Spreizschritt vor der Linie ein paar Hundertstelsekunden zu spät angesetzt hatte? Was spielt das für eine Rolle? Eigentlich keine. Das Zielfoto war eindeutig: Simon Schempp war Zweiter. „Mein erster Gedanke war: Shit!“, sagte der Geschlagene. „Doch der zweite Gedanke war: Super, eine Einzelmedaille.“

Hauchdünn geschlagener, ehrenvoller Zweiter

Wie ein Verlierer sah der 29-Jährige nicht aus. Ein Verlierer war er auch nicht, lediglich ein hauchdünn geschlagener, ehrenvoller Zweiter. „Wenn es fünf Meter weiter gegangen wäre, hätte es vielleicht gereicht“, sagte Schempp: „Ich bin auf der Zielgeraden immer näher gekommen – als wir hinter Ziellinie lagen, war mir klar, dass es verdammt knapp war.“ 15 Zentimeter machten den Unterschied, doch das war für den in Ruhpolding lebenden Schwaben aus dem Filstal schnell unerheblich. Er war glücklich, er strahlte wie ein Teenager, der die Fahrprüfung im letztmöglichen Anlauf bestanden hatte. „Ich habe Silber gewonnen, nicht Gold verloren“, betonte er, und sein natürliches Lachen belegte, dass die Worte keine üblicherweise in dieser Situation gerne gedroschene Phrase waren.

Nach der obligatorischen kleinen Siegerehrung im Alpensia Biathlon Center wurde Schempp auf die Schultern gehievt, und das versammelte deutsche Biathlon-Team brüllte seinen Namen. „Endlich hat es auch bei Olympia gereicht“, freute er sich. Endlich ein Einzelerfolg. Bei der WM 2017 in Hochfilzen hatte er wie ein Insektengift-Allergiker auf einen Bienenstich reagiert, wenn es ein Reporter wagte, die lästige Frage nach der noch fehlenden Einzelmedaille bei einem Großereignis zu stellen – der Mann von der Skizunft Uhingen hatte zwar schon eine Plakette von Olympia sowie sieben von einer WM, doch allesamt stammten sie von Staffel-Erfolgen.

Die erste olympische Einzelmedaille

Erst im letzten Wettbewerb in Hochfilzen tilgte Schempp am 19. Februar 2017 mit Gold im Massenstart diesen gefühlten Makel aus seiner Vita. Nun holte er in Südkorea die fehlende erste olympische Einzelmedaille, und die Freude über diese Tatsache untermauerte den Anschein, als fühle sich der Deutsche erst jetzt wie ein kompletter Biathlonstar. Erstaunlicherweise war es in Pyeongchang ebenfalls im Massenstart, erstaunlicherweise schnappte sich Schempp fast exakt ein Jahr später diese so wichtige Olympia-Einzelmedaille – genau 364 Tage waren am 18. Februar 2018 seit Hochfilzen vergangen. „Es ist schon komisch, dass ich mir immer bis zur letzten Einzelentscheidung Zeit lasse“, sagte Schempp und lächelte.

Dieses Silber ist für ihn Gold wert. Nicht nur, weil es sich um eine Einzelmedaille handelt. Sondern vor allem auch deshalb, weil der 29-Jährige ein schwierige, eine äußerst nervenaufreibende Saison hinter sich hat. Weil seit Mitte Dezember 2017 der Rücken immer wieder zwickte, mal weniger und noch einigermaßen erträglich, mal dann aber doch so bösartig, dass Schmerzen bis in den Oberschenkel ausstrahlten und den gesamten Biathleten lahmlegten. Simon Schempp tingelte von einer Behandlung zur nächsten, zu diesem und zu jenem Spezialisten, er ließ dafür zwangsläufig Weltcup-Rennen aus. Er spürte gelegentlich Besserung, nur um einige Tage darauf enttäuscht zu werden und zu fühlen, dass längst nicht alles so ist, wie sich ein Spitzensportler vor dem Saisonhöhepunkt seine Situation vorstellt.

Die turbulenten Leidenswochen sind vergessen

„Du registrierst, Olympia rückt immer näher, aber du verlierst durch die ständigen Pausen deine Form“, beschrieb Schempp seine psychisch wie physisch turbulenten Leidenswochen. „Es gab Tage, da bist du wirklich nicht gut gelaunt – in dieser Zeit war es wichtig, dass mir nahestehende Menschen gut zugeredet haben.“ Er hätte auch sagen können: den Rücken gestärkt. Alles wendete sich noch zum Guten. Gerade rechtzeitig vor Olympia schlossen Schempp und sein Körper einen Friedensvertrag. Welcher medizinische Diplomat diesen auch ausgehandelt haben mag – eine Woche vor dem Abflug nach Korea konnte der ehemalige Dauerpatient schmerzfrei trainieren. „Ich habe immer daran geglaubt, dass es noch klappen kann“, erzählte der zweite Sieger.

Mit den Gedanken all dieser Aufs und Abs im Gepäck war dieses Ergebnis eine Befreiung der Seele, da war es ihm letzten Endes ziemlich egal, aus welchem Material die Plakette besteht. So konnte der Mann schmunzeln über die Frage, welche Schuhgröße er denn habe. „43. Also zwei Nummern zu klein“, antwortete Schempp – und er tat dies in der Gewissheit, dass er mit dieser Silbermedaille einer der Großen im deutschen Biathlon geworden ist.