LB – Landbevölkerung. Die Sträßchen rund um Christian Hermes’ Wohnung an der Königstraße sind bei den Fans der jaulenden Motoren beliebt. Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Stadtbewohner erklären ihr Quartier. Teil zwei: der Stadtdekan Christian Hermes führt von der König- zur Leonhardstraße. „Ich habe nicht den Eindruck, dass man sich dafür interessiert, ob hier noch Menschen wohnen mögen“, sagt er.

S-Mitte - Das Straßenbild wirkt wie bei oberster Instanz bestellt. „Der Mercedes sieht nach Ministerpräsident aus“, sagt Christian Hermes. Modell und Farbe passen auf den Dienstwagen Winfried Kretschmanns. Außer der S-Klasse parken ein Porsche Panamera, ein Audi A 8 und ein De Lorean im Halteverbot, eine US-Rarität. „Da drüben pinkelt gerade jemand den Kunstverein an“, sagt Hermes. Genauer: dessen Fassade. Ein Maserati röhrt die Stauffenbergstraße hinan. Das LB des Nummernschilds zittert. „Davon fange ich nicht an“, sagt Hermes. Was er nicht sagen will, formuliert Städters Spottmund ohnehin schöner: LB – Landbevölkerung. So präsentieren sich die rund 50 Meter Stauffenbergstraße an einem Dienstagabend binnen zwei Minuten.

Monsignore Christian Hermes ist Stuttgarts oberster Katholik, der Stadtdekan. Er ist ebenso harter wie prominenter Kritiker der Auswüchse des Nachtlebens. Dabei ist sein Ton keineswegs pastoral. „Ich habe nicht den Eindruck, dass man sich dafür interessiert, ob hier noch Menschen wohnen mögen“, sagt er, „da erwarte ich auch mehr von Fritz Kuhn, Stadtpolitik ist nicht nur Feinstaub und Verkehrslenkung“. Ein Mann, der die Wahrheit spricht, braucht ein schnelles Pferd, philosophierte Konfuzius. Hermes schiebt ein Fahrrad.

Beim SWR-Festival wackeln die Wände

Aus Großstädters Sicht lässt sich keine bessere Wohnung finden als die seine. Hermes sieht das genauso. Deshalb hat er seine alte Dienstwohnung im Westen aufgegeben. An der Stauffenbergstraße ist seine Haustür. Er lebt mit Blick über die Stadt droben im Haus der katholischen Kirche, an der Naht, die den Trubel der Königstraße mit dem Idyll des Schlossgartens verbindet. Allerdings tost Begleitmusik zu den Wonnen des zentralen Wohnens – im Wortsinn.

Während des SWR-Festivals auf dem Schlossplatz hat Monsignore den Schallpegel gemessen: 80 Dezibel – in seiner Wohnung. „Da wackeln die Wände“, sagt er. Das war um halb elf am Abend. Zu dieser Zeit wird er sich nachher wieder an den Schreibtisch setzen, Schriftkram erledigen. „Augen auf bei der Berufswahl“, witzelt Hermes, „Zeit habe ich nicht viel.“ Besuche in seiner geliebten Oper oder Maultaschen bei Burhan am Wilhelmsplatz hegt sein Sekretariat in den Terminplan ein.

Innerhalb der Kirchen gilt der Job des Großstadtpfarrers als eine Art Märtyrertum. Not und Elend sind dauerhaft zu Gast in den Gotteshäusern, und kaum ist ein Ehrenamtler gefunden, der sie zu lindern hilft, zieht er weg, sei es nach Fellbach oder Frankfurt. Aber „bei allem, was nervt, ich mag die Innenstadt einfach, ich liebe ihre Kultur“, sagt Hermes, „und hier prallen alle Extreme aufeinander“. Hier schlendern Musikliebhaber auf dem Weg zur Oper an den Obdachlosen vorbei, die im Schlossgarten campieren.

Andrang auf den Beichtstuhl

Dass für den Beichtstuhl in der Domkirche schier Platzreservierungen ausgegeben werden müssen, wertet er als Erfolg. Womöglich fällt gerade in der Anonymität der Stadt die Hemmung, sich einem Seelsorger anzuvertrauen. Das Haus der katholischen Kirche lädt in seinen „Raum der Stille“ ein. Besucher hocken dort, um zu schweigen. Weil das dem Großstädter schwerfällt, können sie sich anleiten lassen darin, einfach mal die Klappe zu halten und nicht auf dem Handy herumzutippen. Es geht dort, wie bei vielem anderen in und um die Kirche, um „Orte, an denen man auch ohne Kohle eine Berechtigung hat“, sagt Hermes.

Seine Wohnung wird auch von tatsächlichem katholischen Märtyrertum umweht. Rupert Mayer war einer seiner Vorgänger als Seelsorger in der Stadtmitte. Die Bolzstraße ist nach Eugen Bolz benannt. Beide Katholiken waren Politiker, die sich unverhohlen der NSDAP entgegenstellten. Bolz, seinerzeit Minister, verbot gar einen Auftritt Hitlers auf dem Schlossplatz. Der Diktator ließ ihn später enthaupten. Mayer überlebte die Nazi-Verfolgung mit schwer angeschlagener Gesundheit und verstarb wenige Tage nach Kriegsende an einem Schlaganfall. Ihn sprach die katholische Kirche 1987 selig. „Der Seligsprechungsprozess für Bolz ist eröffnet“, sagt Hermes.

In diesen Minuten plärrt eine Straßenmusik-Combo das Denkmal für Eugen Bolz am Königsbau an. Vor Mayers Geburtshaus, in dem heute Tritschler Haushaltswaren verkauft, tobt das Festival der Kulturen seinem Schlussakkord entgegen. „Hier könnte man es eine Weile aushalten“, sagt Hermes. Stattdessen erzählt er, dass in Stuttgart 28 Gruppen von Katholiken aus fremden Nationen aktiv sind. Die größte davon stellen die Polen. „Mich freut, dass in dieser Stadt Pegida einen Vollflop erlebt hat“, sagt er, „die kommen wahrscheinlich nie wieder.“

Hermes spricht vom „Sklavenmarkt“ im Leonhardsviertel

Das Gebiet seiner Gemeinde ist historisch verwirrend gewachsen. Es schlängelt sich vom Killesberg bis zum Frauenkopf durch die Stadt. Über eines in der Vielfalt der Quartiere spricht Hermes mit Abscheu: „Den Sklavenmarkt finde ich empörend“, sagt er. Der Geistliche steht im Leonhardsviertel. Er sei nicht so naiv zu glauben, dass ein Verbot die Prostitution abschaffen würde, aber „Bürgermeister Schairer selbst hat festgestellt, dass hier die Würde des Menschen zutiefst verletzt wird“, sagt er „dann müsste hier unmittelbar eingeschritten werden, das ist schließlich Artikel eins des Grundgesetzes.“ Gemeint ist der Ordnungsbürgermeister Martin Schairer. Die Prostituierten schweigen. Ein Lachen aus der Kneipe um die Ecke ist das einzige Geräusch. So seltsam es scheinen mag. Das Rotlichtviertel ist die einzige Station des Rundgangs, an der Stille herrscht.