Das Landgericht Ulm beschäftigt sich mit einem besonders drastischen Fall von sexuellem Missbrauch. So soll ein heute 44-jähriger ehemaliger Bewohner aus dem Kreis Göppingen seine Stieftochter 88 mal missbraucht haben. Foto: dpa

Einem 44-jährigen ehemaligen Kreisbewohner wird zur Last gelegt, seine Stieftochter in 88 Fällen sexuell missbraucht zu haben. Vor dem Landgericht Ulm weist er alle Vorwürfe zurück.

Kreis Göppingen - Es ist der erste Prozesstag vor dem Ulmer Landgericht, verhandelt wird ein Fall von sexuellem Kindesmissbrauch in 88 Fällen, mutmaßlich begangen durch einen 44-jährigen Mann an seiner Stieftochter. Doch eine Hauptperson fehlt. Es die junge Frau, die von Herbst 2008 bis 2010 – das ist die Zeit zwischen ihrem elften und 13. Lebensjahr – in einem Haus in Donzdorf (Kreis Göppingen) ein Martyrium erlitten haben will. Sie wird noch später in diesem Prozess aussagen – voraussichtlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

Zunächst hat der Angeklagte Zeit, zu sprechen. Ob die in der Anklage formulierten Vorwürfe stimmten, fragt der vorsitzende Richter Wolfgang Tresenreiter: nämlich, dass der Mann das Kind immer dann, wenn die Ehefrau außer Haus war, begrabtschte und schließlich mehrfach zum Oral- und Geschlechtsverkehr zwang? „Das ist komplett falsch“, sagt der Angeklagte. Das Kind habe diese ganzen „Storys“ von der Mutter. Von ihr hat sich der Mann im Jahr 2010, nach gut zehnjähriger Ehe, getrennt. Er zog fort, in ein Dorf auf der Schwäbischen Alb. Zur Missbrauchsanzeige kam es erst danach.

Die Ex-Frau soll alles manipuliert haben

Ausführlich erzählt der Mann von seiner Ehekrise, die schon lange geschwelt habe. Von anderen angeblichen Missbrauchsgeschichten, die ihm seine Ex-Frau schon früher erzählt habe; wie sie ihn damit manipuliert und gesteuert habe, so lange, bis sich die schwer belastenden Erfindungen gegen ihn selbst gerichtet hätten. Irgendwann unterbricht der Richter Tresenreiter, erinnert daran, dass es hier nicht um die „Aufarbeitung“ der Ehe gehe, sondern um die Vorwürfe des Kindes. „Nein, nein“, wehrt der Angeklagte ab. Er müsse das alles erzählen, das gehöre alles dazu. Viele handgeschriebene Seiten liegen vor ihm.

Die Ereignisse, um die es geht, liegen weit zurück. Die Beweislage ist, wie so oft in solchen Fällen, dünn, es steht Aussage gegen Aussage. Die Tübinger Kinder- und Jugendpsychiaterin Marianne Clauß hört mit. Sie ist von der Kammer mit der Anfertigung eines Glaubwürdigkeitsgutachtens beauftragt worden.

Nie habe er sich der Schwiegertochter unsittlich genähert, berichtet der 44-Jährige. Manchmal hätten sie spaßhaft miteinander „geschlägert“, öfter habe er ihr zu Hause bei Turnübungen mit Hilfsgriffen zur Seite gestanden. Das habe aber aufgehört, als das Kind wegen einer Schulterverletzung nicht mehr turnen wollte.

Keine Übergriffe, nur Hilfe beim „Turnen“

Das vielleicht wichtigste Indiz macht der Verteidigung Schwierigkeiten. Es ist ein Brief des 44-Jährigen, geschrieben an seine Eltern an dem Tag, als ihm – schon längst allein lebend – die Zeugenladung der Kriminalpolizei wegen des Vorwurfs des sexuellen Kindesmissbrauchs zugestellt wurde. In der folgenden Nacht habe er einen Suizidversuch unternommen, berichtet der Angeklagte. Er habe sich Insulin gespritzt, dann ein „Testament“ sowie verschiedene Abschiedsbriefe geschrieben, sich anschließend noch mehr Ampullen gespritzt und dazu Schlaftabletten genommen. Dennoch habe er überlebt.

Der Richter liest aus dem Elternbrief vor: „Ich war ein schlechter Sohn“, steht da. „Ich habe Sachen gemacht, die schlecht waren. Ich habe aber immer gefragt, ob es okay ist. Ich habe immer gesagt bekommen, dass es okay ist.“

Was er denn damit gemeint habe, fragt der Oberstaatsanwalt Michael Bischofberger. Na, eben die Turnübungen, sagt der 44-Jährige. Eine Entschuldigung für Turnhilfen in einem Abschiedsbrief? Das verstehe er nicht, sagt Bischofberger. Als er den Brief geschrieben habe, sei er „schon halb im Unterzuckerungswahn“ gewesen, sagt der Angeklagte. Den Prozess hat das Gericht bis Juni terminiert.