Der Anteil übergewichtiger Kinder und Jugendlicher wächst stark an. Foto: Imago Images/ingimage

Der Karlsruher Sportwissenschaftler Alexander Woll untersucht seit 20 Jahren die Alltagsaktivität von Kindern im Alter von 4 bis 17 Jahren. Bereits während der Pandemie hat er vor den weitreichenden Folgen des Bewegungsmangels und den daraus folgenden Kosten für das Gesundheitssystem gewarnt.

Alexander Woll leitet das seit 2002 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Langzeitprojekt „Motorik-Modul-Studie zur Entwicklung von körperlicher Aktivität, Fitness und Gesundheit in Deutschland“. Der Professor ist Vorstand des Forschungszentrums für Schulsport/Sport am Karlsruher Institut für Technologie.

Professor Woll, während der Pandemie sprachen Sie von tickenden Zeitbomben in Bezug auf unsere Kinder. Eine neue Studie zeigt, dass ein Viertel der Kinder und Jugendlichen hierzulande übergewichtig ist, Kinderärzte und Weltgesundheitsbehörde schlagen Alarm.

Mir wäre es lieber, wenn ich nicht recht gehabt hätte. Die Warnungen haben leider nicht gefruchtet, Bewegung hat während der vergangenen drei Jahre sehr gelitten. Nach Auswertung unserer Befragungen von 1700 Kindern im Alter von 4 bis 17 Jahren während der Pandemie wissen wir, dass die Bewegungszeiten und das Aktivitätsniveau auf einem historischen Tief sind und noch nie so niedrig waren – zumindest nicht in den vergangenen 20 Jahren, in der es unsere Motorikstudie in Deutschland gibt. Die Alltagsbewegung ist komplett eingebrochen, und die Medienzeit in der Freizeit ohne Homeschooling hat sich deutlich um 1:30 Stunden täglich erhöht – das war eine massive Veränderung der Lebensweise und ist leider auch so geblieben. Es gab eine weitere wichtige Erkenntnis: 70 Prozent der zuvor schon übergewichtigen Kinder haben während der Pandemie noch deutlich zugenommen. Diese Persistenz ist ein Riesenproblem.

Wie stark beeinträchtigt Übergewicht die Kinder?

Übergewichtige Kinder und Jugendliche haben große Einschränkungen in ihrer Lebensqualität mit bereits teilweise gravierenden gesundheitlichen Folgen. Ganz wichtig: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein übergewichtiges Kind ein übergewichtiger Erwachsener wird, liegt bei 80 Prozent. Solche Risikokonstellationen prägen sich früh aus. Hier zu investieren, lohnt sich also nicht nur aus gesundheitlicher, sondern auch aus ökonomischer Sicht. Übergewichtige Kinder werden übergewichtige Erwachsene und verursachen meist lebenslang sehr hohe Kosten für das Gesundheitssystem. Ein besseres Immunsystem und eine gute Fitness sind ein Schutzfaktor vor Krankheiten. Gesunde und fitte Kinder sind später oft auch gesunde und fitte Erwachsene.

Welchen Einfluss haben eine gute Motorik und genug Bewegung für die Entwicklung?

Eine eben veröffentlichte Studie der Uni Potsdam zeigt, dass bei Grundschulkindern der dritten Klasse der Motorikrückstand acht Monate zum Vergleich vor der Pandemie beträgt. Der motorische Bereich hat stärker gelitten als der kognitive Bereich wie Mathe oder Deutsch – dort beträgt der Rückstand maximal drei Monate. Viele Kinder können nicht schwimmen, das für mich zu motorischen Schlüsselkompetenzen fürs Leben zählt. Bewegung allgemein gehört zu einem gesunden Aufwachsen dazu. Sie ist wichtig für die kognitive, psychische und motorische Entwicklung.

Wie müsste man Bewegung bei Kindern fördern?

Das ist eine gesellschaftliche Aufgabe, wir brauchen nach der Pandemie nicht nur ein Aufholprogramm in den Schulen für den kognitiven Bereich, sondern auch für den motorischen Bereich und für mehr Bewegung. Wir brauchen einen Bewegungspakt, mehr Ressourcen in Schulen und Kitas, damit mehr Bewegung und Sport strukturell verankert werden. Das können nicht allein die Vereine und der organisierte Sport stemmen, dorthin kommen meist die aktiven Kinder und Jugendlichen.

Beim Bewegungsgipfel im Kanzleramt Mitte Dezember wurden solche Fragen diskutiert. Sind Sie mit den Gipfelergebnissen zufrieden?

Ich bin sehr zufrieden, dass es diesen Gipfel gab und sehr viel Aufmerksamkeit auf das Thema gelenkt wurde. Es darf jetzt nicht bei dieser einmaligen „Gipfelbesteigung“ und den Arbeitsgruppen bleiben. Vielmehr bedarf es – ähnlich wie beim Digitalpakt für die Schulen – einer konkreten Finanzierungsgrundlage. Bei der Verteilung dieser Mittel sollten neben den Sportvereinen auch die Kommunen und die Bildungsinstitutionen (Schule, Kindergarten) in den Blick genommen werden. Nur dann gelingt es, alle zu erreichen. Der avisierte Sportentwicklungsplan wird eine große Herausforderung, da er aufgrund der föderalen Struktur mit sehr vielen Playern abgestimmt werden muss. Es lohnt sich aber für das Wohl der Menschen in Deutschland, sich auf diesen Weg zu begeben.