In München beginnt der Prozess um den wohl größten Skandal der deutschen Wirtschaftsgeschichte: die Wirecard-Pleite. Im Zentrum steht der Ex-Chef des Zahlungsdienstleisters, Markus Braun. Die Anklage sieht ihn als Milliardenbetrüger, die Verteidigung als Opfer.
Wer ein Potemkin’sches Dorf errichtet, schafft ein Truggebilde, eine bloße Fassade. Der Begriff geht auf eine erfundene Erzählung über den russischen Fürsten Potjomkin zurück. Der ließ demnach 1787 in gerade eroberten Gebieten entlang des Reiseweges von Zarin Katharina aus bemalten Kulissen illusionäre Dörfer entstehen, um seiner Herrscherin blühende Landschaften vorzugaukeln. Diese Anekdote ließe sich mit etwas Fantasie auf einen der spektakulärsten Finanzskandale der deutschen Wirtschaftsgeschichte übertragen.
Zahlungsdienste für die Pornoindustrie und US-Glücksspielanbieter
Ersetzt man die Dörfer durch den früheren Dax-Konzern Wirecard, Potjomkin durch dessen Manager sowie die Zarin durch Aktionäre, Banken und allerlei Aufsichtsorgane wie die Bafin, landet man schließlich bei dem am kommenden Donnerstag startenden Betrugsprozess am Landgericht München.
Bei Wirecard wurde mutmaßlich vieles frei erfunden, auch wenn der Hauptangeklagte Markus Braun das vehement bestreitet. Vom Trio auf der Anklagebank ist der seit 28 Monaten in Untersuchungshaft sitzende Ex-Chef von Wirecard, der sich als Opfer und nicht als Täter sieht, der Prominenteste. Die anderen beiden sind der ehemalige Wirecard-Chefbuchhalter und ein als Kronzeuge agierender Manager.
Früher galt der heute 53-jährige Braun vielen und auch solchen, die es später schon immer besser gewusst haben wollten, als Digitalguru und Wirecard als deutsche Antwort auf hierzulande beneidete US-Internetkonzerne. Dabei waren schon die Anfänge des Zahlungsdienstleisters aus Aschheim bei München vor zwei Jahrzehnten anrüchig. Es begann, wie es später endete – mit dem gebürtigen Wiener Braun und seinem Landsmann Jan Marsalek (42), dem weiter flüchtigen zweiten Hauptverdächtigen. Marsalek galt als genialer Programmierer und rechte Hand Brauns. Letzterer hatte Wirecard nach einer ersten Pleite 2001 wiederbelebt. Das gelang mit Zahlungsdiensten für die Pornoindustrie und für US-Glücksspielanbieter – Branchen, mit denen wenige seriöse Unternehmen etwas zu tun haben wollte. In Deutschland vernehmbare Zweifel an der Seriosität von Wirecard angemeldet hat 2008 die Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger (SdK). Wirecard reagiert darauf wie später immer wieder: Das Management ging zum Angriff auf seine Kritiker über und kam damit durch. Auch später haben Staatsanwälte oder die Bafin als Finanzaufsicht lange Brauns und Marsaleks Unschuldsbeteuerungen geglaubt. Ermittelt wurde stattdessen gegen die Kritiker.
Eklatantes Aufsichtsversagen auf allen Ebenen
Dabei lag die Wahrheit manchmal zum Greifen nah. Zum Beispiel sollte rund eine Milliarde Euro bei Banken in Singapur auf Treuhandkonten zur Verfügung von Wirecard liegen. Als diese Konten später auf die Philippinen transferiert wurden, wuchsen sie auf dem Papier auf 1,9 Milliarden Euro an. Kontoauszüge, die das bestätigen sollten, liefen auf Euro als Währung. Die Treuhandbanken wiesen aber in ihren Bilanzen keine Einlagen solcher Dimension in Fremdwährung auf, was bei seriösen Wirtschaftsprüfern mindestens zu kritischen Nachfragen hätte führen müssen. Wegen solcher Episoden ist die Geschichte von Wirecard auch eine von eklatantem Aufsichtsversagen auf allen Ebenen.
Angeklagt ist solches Erfinden von viel Geld und dahinterstehender Geschäften jetzt als gewerbsmäßiger Bandenbetrug, unrichtige Darstellung und Marktmanipulation. Was sich wie ein weiterer roter Faden durch den Wirecard-Skandal zieht, ist das Verschwinden hoher Summen, die wirklich existiert haben. Ein sich wiederholendes Prinzip war das Vergeben meist ungedeckter Kredite durch Wirecard und dessen Bankentochter an Partnerfirmen, die heute oft nicht mehr existieren oder wenn, dann nur in Form eines Briefkastens. Mehrere Hundert Millionen Euro wurden so aus Wirecard geschleust, haben Staatsanwälte ermittelt, was in ihrer 474-seitigen Klageschrift im Tatvorwurf der Untreue mündet. Obwohl Analysten und Journalisten öfter Zweifel an der Richtigkeit von Wirecard-Geschäften und -Bilanzen angemeldet haben, stieg der Konzern im September 2018 in den führenden deutschen Börsenindex Dax auf. Fast 200 Euro kostete eine Wirecard-Aktie damals. Der ganze Konzern wurde mit rund 20 Milliarden Euro bewertet.
Die Bafin sorgte für ein Novum in der deutschen Finanzgeschichte
Dann läuteten die Alarmglocken so schrill, dass Ignorieren keine Option mehr war. Die britische Finanzzeitung „Financial Times“ („FT“) und deren Reporter Dan McCrum lieferten 2019 in einer Serie von Berichten überzeugende Belege dafür, dass Wirecard-Geschäfte und Gewinne im großen Stil nur erfunden waren.
Klar war damit: Einer lügt. Aber wer? In dieses Rätseln hinein haben Staatsanwälte und Bafin damals auf fatale Weise Partei ergriffen. Es wurde ermittelt, aber nicht gegen das Management Wirecards, sondern gegen die „FT“ und McCrum. Die Bafin hat sogar Spekulationsgeschäfte auf fallende Wirecard-Aktienkurse untersagt. Ein solches Verbot für eine einzelne Aktie war ein Novum in der deutschen Finanzgeschichte. Den Drahtziehern bei Wirecard verschaffte das eine neue Atempause. Wenn sich die Bafin klar auf die Seite des Unternehmens stellt und gegen dessen Kritiker ermittelt wird, dann sitzen die Lügner wohl nicht in Aschheim, wurde zur verbreiteten Annahme.
Im April 2020 war das „House of Wirecard“, wie McCrum sein Enthüllungsbuch über den größten Betrugsfall in der deutschen Wirtschaftsgeschichte nannte, endgültig nicht mehr zu retten. Wirtschaftsprüfer von KMPG konnten für die angeblichen Treuhandgelder im doppelter Milliardenhöhe keine Belege finden. Kollegen von EY hatten die Wirecard-Bilanzen davor jahrelang unbeanstandet durchgewinkt. Erst jetzt verweigerten auch sie ihr Testat für die Bilanz des Jahres 2019. Am 25. Juni 2020 musste Wirecard Insolvenz anmelden. Marsalek war da schon auf der Flucht. Braun trat als Chef zurück und kam später in Untersuchungshaft, in der er auch heute, gut zwei Jahre später, noch sitzt. 1,9 Milliarden Euro firmeneigenes Treuhandvermögen sind bis heute nicht aufgetaucht und haben nach Lage der Dinge nie existiert. Genau das bestreiten Brauns Verteidiger. Es ist die Kernfrage, die den jetzigen Prozess durchziehen dürfte. Hat es das milliardenschwere Treuhandvermögen nie gegeben und war Braun Teil einer Bande, die dieses Potemkin’sche Dorf errichtet hat? Das ist nach jahrelangem Ermitteln, 450 Vernehmungen und 90 Rechtshilfeersuchen im Ausland, 40 Durchsuchungen im Inland und 42 Terabyte an gesicherten Daten die Version der Anklage. Die Ermittlungsakten umfassen über 700 Aktenbände.
Die 1,9 Milliarden Euro haben offensichtlich nie existiert
100 Verhandlungstage festgesetzt
Gestützt wird die Anklage zudem von einem selbst angeklagten Kronzeugen. Das ist der Ex-Statthalter von Wirecard im arabischen Dubai. Dort vor allem sollen viele Geschäfte frei erfunden worden sein. Braun wäre demnach ein Jahrhundertbetrüger.
Oder aber hat es diese Gelder doch gegeben und sie sind von einer Bande ohne Braun illegal beiseitegeschafft worden? Das ist Brauns Version, die Marsalek zum Kopf einer kriminellen Bande macht. Von der Existenz krimineller Schattenstrukturen im Konzern will dessen Ex-Chef erst durch Ermittlungsakten erfahren haben. Ihm drohen zehn Jahre Haft. Bis mindestens Ende 2023 hat sich das Gericht vorerst gegeben, die Wahrheit herauszufinden, und dafür 100 Verhandlungstage festgesetzt.