Unter Verdacht: Ambulante Dienste sollen in einigen Bundesländern systematisch betrügen. Foto: dpa

Berichte über massiven Abrechnungsbetrug in der ambulanten Pflege haben die Politik aufgeschreckt. So will sie jetzt handeln.

Berlin/Stuttgart - Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) will mit den Ländern und Krankenkassen darüber beraten, wie die Kontrollen von Pflegedienstleistern effizienter gestaltet werden können. Er reagiert damit auf Berichte über massiven Abrechnungsbetrug in der Pflege, der nach Einschätzung des Bundeskriminalamts (BKA) zu beträchtlichen finanziellen Schäden führt. Es soll sich um ein bundesweites Phänomen handeln und Pflegedienste betreffen, die mehrheitlich von Personen aus den Staaten der früheren Sowjetunion geführt werden. In Baden-Württemberg gibt es nach Angaben des Landeskriminalamts (LKA) aktuell allerdings keine entsprechenden Ermittlungsverfahren.

Schon seit Jahren ist in der Fachwelt bekannt, dass Abrechnungsbetrug zu Lasten der Kranken- und Pflegekassen sowie der Sozialhilfe – und damit der Allgemeinheit – häufig vorkommt. Eine Studie allerdings, die versuchte, Licht ins Dunkel zu bringen und die Schadenshöhe auszumachen, gibt es bisher nicht. „Das ist nicht genau untersucht“, sagte Peter Scherler, der Chef der Ermittlungsgruppe für Abrechnungsbetrug bei der AOK Niedersachsen, unserer Zeitung.

Scherler zeigt sich deshalb auch zurückhaltend, was die vielfach genannten Schätzungen anbelangt. Sie besagen, dass sich allein durch betrügerische Pflegedienste ein Schaden von jährlich bis zu 1,25 Milliarden Euro ergibt. Ungeachtet der vagen Zahlen steht für den Juristen aber eines zweifelsfrei fest: „Es liegt Organisierte Kriminalität vor. Die Täter kennen sich und sprechen sich ab.“ Was die Täter anbelangt, will sich das BKA nicht äußern. Die „Welt am Sonntag“ zitiert aus einer Analyse des Bundeskriminalamtes, in der es heißt, dass das Phänomen dort auftrete, „wo sich durch Sprachgruppen geschlossene soziale Systeme bilden“. Das sei in Regionen mit vielen russischstämmigen Personen der Fall.

Eine Masche der Kriminellen betrifft Schwerkranke und Patienten, die rund um die Uhr eine Beatmung brauchen. Dabei können durchaus Kosten von bis zu 35 000 Euro im Monat entstehen. Für Kriminelle ist das eine attraktive Summe: Man schaut nur alle paar Stunden bei dem Kranken vorbei und ersetzt die Fachkraft durch einen Ungelernten, streicht aber die volle Vergütung ein. Das funktioniert, weil die Angehörigen mitspielen und der geforderte „Leistungsnachweis“ gefälscht wird. Auch deshalb ist es schwer, den Tätern auf die Spur zu kommen.

Scherler hält es für richtig, dass seit 2013 die Kassen und Sozialhilfeträger (das sind in der Regel die Kommunen) bei Verdachtsfällen zusammenarbeiten und Daten austauschen können. Seit diesem Jahr kann der Medizinische Dienst der Kassen auch unangemeldet zu Prüfungen auftauchen. Allerdings nennt die Norm, die das regelt, explizit nur die Alten- und Pflegeheime – also nicht den Fall, dass jemand zu Hause versorgt wird. Darin sieht der Spitzenverband der Krankenkassen eine Regelungslücke – eine Lücke, über die Gröhe nun mit dem Verband und den Ländern beraten will.

Ob die Betrugsbekämpfung einfacher wird, wenn die Lücke geschlossen wird, ist offen. Immerhin handelt es sich nach Auffassung von Scherler um Organisierte Kriminalität, also um Personen, die im Umgang mit Ermittlern und Strafverfolgungsbehörden mit allen Wassern gewaschen sind. Wenn es eng wird, macht man kurzerhand mit einem Strohmann einen anderen Pflegedienst auf. „Dann ist es einer Kasse nicht möglich, dem neuen Dienst eine Zusammenarbeit zu verweigern, weil der ja zunächst jedenfalls unbescholten ist“, so Scherler.

Krankenkassen im Südwesten sehen derzeit keine Anhaltspunkte für eine Betrugswelle im Pflegebereich. Es sei aber nicht auszuschließen, dass kriminelle Pflegedienste mit Verbindungen etwa nach Russland auch in baden-Württemberg tätig seien, so die Techniker Krankenkasse. Die AOK Baden-Württemberg sprach von „Erkenntnissen über Einzelfälle“. Diese könnten in ein Ermittlungsverfahren münden, „was durch die staatlichen Stellen zu beurteilen und durchzuführen ist“.