Dopingexperte Simon Perikles: Der gebürtige Freiburger ist davon überzeugt, dass 60 Prozent der Spitzensportler zu unerlaubten Hilfsmitteln greifen Foto: dpa

Sein Spezialgebiet ist die Erforschung des menschlichen Erbguts, für die Ergebnisse seiner Arbeit interessieren sich auch viele Sportler. „Gendoping“, sagt der Sportmediziner Perikles Simon, „ist das Doping der Zukunft.“

Sein Spezialgebiet ist die Erforschung des menschlichen Erbguts, für die Ergebnisse seiner Arbeit interessieren sich auch viele Sportler. „Gendoping“, sagt der Sportmediziner Perikles Simon, „ist das Doping der Zukunft.“
 
Stuttgart - Herr Simon, Sie behaupten stets, dass bis zu 60 Prozent aller Spitzensportler gedopt sind. Ist dies wissenschaftlich belegt?
Natürlich.
Durch welche?
Das geht zurück bis in die 70er Jahre. Damals wurde in einer Studie erstmals belegt, dass rund ein Drittel der schwedischen Leichtathleten anabole Steroide konsumiert haben. Seitdem weiß man, dass im Spitzensport vermehrt manipuliert wird.
Das kann aber ja nicht die einzige Grundlage für Ihre 60-Prozent-Theorie sein.
Ist es auch nicht. Seither gab es immer wieder wissenschaftliche Dopingerhebungen, auch in Deutschland. Um die Jahrtausendwende zum Beispiel wurden deutsche Spitzenathleten befragt, mit dem Ergebnis, dass zumindest zehn Prozent von ihnen dopen, dass es aber bis zu 60 Prozent sein können.
Das ist eine ziemliche Schwankung.
Das liegt daran, dass Sportler inzwischen natürlich so weit sensibilisiert sind, dass es nicht reicht, sie einfach zu fragen, ob sie dopen oder nicht. Bei solchen Untersuchungen werden ausgefeilte Verfahren verwendet.
Wer macht das noch?
Zum Beispiel, was das Blutdoping angeht, das Schweizer Anti-Doping-Labor. Dort wurden die mehr als 1000 Blutprofile, die der Leichtathletik-Weltverband angelegt hat, mit labortechnischen und populationsstatistischen Verfahren untersucht. Das war eine wissenschaftlich sehr gute Arbeit.
Mit welchem Ergebnis?
Mindestens 14 Prozent der Leichtathleten praktizieren Blutdoping. Und es ging hoch bis zu 78 Prozent der Sportler aus einem bestimmten Land, das aus ethischen Gründen nicht benannt werden durfte. Wir müssen uns mit dem Gedanken anfreunden, dass um die 30 Prozent aller Spitzenleichtathleten ihr Blut manipulieren.
Dazu kommen noch die vielen anderen Möglichkeiten zu dopen?
So ist es. Die Dunkelziffer ist hoch.
Und in der Summe . . .
. . . kommt man als Wissenschaftler, der die Sache realistisch einschätzt, ganz schnell auf eine Zahl von 60 Prozent dopender Spitzensportler. Zugegeben, das ist traurig. Aber trotzdem kann man sich als Funktionär jetzt nicht einfach hinstellen und versuchen, diese Zahl zu diskreditieren.
Wie sieht modernes Doping aus?
Es ist ein multidimensionaler Substanzmissbrauch. Alle Gerichtsprozesse, die es gab, zeigen: Die Athleten belassen es nicht dabei, sich mit einem Mittel zu dopen. Und es werden unterschiedliche Hebel angesetzt – vom erschwindelten Kortison-Rezept über Steroid-Gaben, um die Regeneration zu fördern, bis zum Blutdoping, das teilweise auch noch während eines Events wie der Tour de France vorgenommen wird, um das Leistungsmaximum zu realisieren. Fest steht: Man braucht ein Versorger-Umfeld, um das auf diesem Niveau überhaupt noch betreiben zu können.
Gibt es Hochburgen des Dopings?
Peter Schröcksnadel, Präsident der österreichischen Skisportler, hat nach dem Skandal bei Olympia 2006 in Turin vor der Weltpresse gesagt, Österreich sei ein zu kleines Land, um gut dopen zu können. Das ist natürlich Unsinn. Doping kennt keine Grenzen.
Wird in allen Sportarten gedopt?
Ich halte nichts mehr von der Aufteilung in Sportarten mit unterschiedlichem Dopingrisiko. Da reicht doch schon ein Blick in den Hobby-Sport: Sogar dort wird gedopt. Bei einer Befragung haben zum Beispiel 15 Prozent aller Hobby-Triathleten angegeben, dass sie dopen.
Bringt Doping in jeder Sportart etwas?
Natürlich kann man auch beim Segeln oder Curling zum Doper werden. Etwa, wenn man verletzt ist und schnell fit werden muss, um in einem halben Jahr bei Olympia dabei zu sein. Es soll sich doch mal jeder selbst hinterfragen: Wer in seinem Beruf eine einmalige Chance hat, aber leider krank ist – würden da nicht die meisten fast alles unternehmen, um diese Chance wahrzunehmen?
Was ist mit Fußball?
Nehmen wir mal an, es gibt einen Spieler, der alle Qualitäten besitzt, außer der nötigen Ausdauer. Natürlich kann dieser Spieler auf die Idee kommen, mit Blutdoping auch seine letzte Schwäche auszumerzen. Einem anderen fehlt es vielleicht an der Schnellkraft, da kann Testosteron helfen. Und nach einer Verletzung wollen alle möglichst schnell fit werden. Deshalb sage ich: Natürlich wird auch im Fußball gedopt.
Kann ein sauberer Radprofi die Tour de France gewinnen?
Das halte ich für extrem unwahrscheinlich, denn die Leistung befindet sich immer noch auf einem Niveau wie in den Jahren, von denen wir wissen, dass im Feld flächendeckend gedopt worden ist. Warum sollte jetzt eine Leistung ungedopt realisiert werden können, die vorher nur gedopt geschafft wurde? Bei einem Athleten wäre das vielleicht möglich. Aber nicht bei vielen.
Ist Usain Bolt ein solches Ausnahmetalent?
Er ist sicher ein Ausnahmetalent, dazu muss man sich nur die Zeiten anschauen, die er schon mit 15, 16 Jahren als dünner Schlaks gelaufen ist. Ob der ganze Rest natürlich erreichbar ist oder nicht, ist Spekulation.
Und dass eine kleine Insel plötzlich die Sprint-Welt dominiert . . .
 . . . ist tatsächlich ein großes Problem. Da haben sich Athleten, die jahrelang konstant unter zehn Sekunden gerannt sind, mit Mitte 20 plötzlich innerhalb weniger Monate um mehr als eine Zehntel Sekunde verbessert.
Lauter Ausnahmetalente?
(Lächelt) Ich halte nichts von der Theorie, dass hochgradiges Talent ansteckend ist. Doch dieses Phänomen ist nicht allein auf Jamaika begrenzt.
Sondern?
Die Leistungen der Weltklasseläufer haben sich in etwa zeitgleich mit der Markteinführung des Wachstumshormons IGF-1 in den USA signifikant verbessert. Das lässt sich statistisch belegen. Dort trainieren auch die Jamaikaner und Franzosen, die zusammen mit den US-Athleten den Sprint dominieren. Da kann man leicht eins und eins zusammenzählen.
Sie beschäftigen sich als Forscher mit menschlichen Genen. Wie funktioniert Gendoping?
Erbsubstanzen werden von außen in den Körper gebracht. Vor allem durch Viren, die gespritzt werden. Man braucht Trillionen von Viren.
Ist das gefährlich?
Absolut. Die medizinische Gentherapie ist mit extrem hohen Sicherheitsauflagen verbunden. Es ist schwer, an Substanzen heranzukommen oder Viren zu produzieren. Und trotzdem befürchten wir, dass Viren, die für die Grundlagenforschung in Zellkulturschalen gedacht sind, im Sport zu Dopingzwecken missbraucht werden.
Gibt es schon einen Gendoping-Fall?
Nein. Aber es gibt Hinweise. Nachdem der Grundlagenforscher Lee Sweeney durch eine Gentherapie Mäuse extrem leistungsfähig gemacht hat, sind sehr viele Sportler und Trainer auf ihn zugekommen – mit der Frage, ob sie dieses Mittel kaufen könnten. Und schon 2004 hat sich der deutsche Leichtathletik-Trainer Thomas Springstein danach erkundigt, ob er Repoxygen für seine Athleten bekommen könnte. Dabei handelt es sich um ein Virus, welches das Epo-Gen in den Körper vermitteln soll. Der Körper würde dann selbst Epo bilden, ohne die Gefahr, von Dopingfahndern erwischt zu werden.
Was lässt sich durch Gendoping sonst noch bewirken?
Am weitesten fortgeschritten in der klinischen Entwicklung ist der Gentransfer von Follistatin. Das ist der natürliche Gegenspieler eines Muskelblocker-Proteins, das dafür sorgt, dass der Muskel nicht überschießend wächst. Diesen Blocker kann man durch einen Gentransfer gezielt hemmen. In Tierversuchen wurde damit nicht nur ein großes Muskelwachstum erzielt, sondern die Tiere wurden auch erheblich stärker. Wir befürchten, dass Sportler diese Erkenntnisse für sich nutzen wollen.
Wo ist Gendoping noch vorstellbar?
Es gibt Bereiche, da ist das konventionelle Doping dem Gendoping um Längen überlegen. Zum Beispiel sind am Testosteron-Aufbau im Körper so viele Gene beteiligt, dass es gar nicht geht, diese alle zu manipulieren. Aber Ängste müssen wir haben bei einem Athleten, der komplett am Anschlag ist und bei dem bis hin zum Sauerstofftransport schon alles optimiert wurde. Wenn dann allein die Gefäßversorgung der Muskulatur noch nicht ideal ist, gibt es dafür kein Medikament. Aber durch die Vermittlung von nur zwei Genen könnte man dafür sorgen, dass die Muskulatur deutlich besser durchblutet wird.
Und das wird noch nicht getan?
Nun ja, zumindest gibt es sehr, sehr viele Trainer und Athleten mit großem molekularbiologischem Wissen, und wer Englisch kann, der kann sich den Rest anlesen. Und an der Skrupellosigkeit, Gendoping auch anzuwenden, fehlt es sicher auch nicht.
Mit welchen Folgen?
Ich will keine übertriebenen Ängste schüren. Aber wenn diese Viren nicht unter guten Bedingungen produziert worden sind und unkontrolliert eingesetzt werden, kann so ein Virus noch infektiös sein. Dann würden diese Viren nicht nur dem Sportler, dem sie gespritzt werden, Probleme bereiten, weil sich das Immunsystem des Körpers gegen die Manipulation wehrt. Die Viren könnten sich auch noch an Dritte verbreiten.
Doch darüber denkt natürlich kein Trainer oder Sportler nach.
Richtig. Im Sport schert sich natürlich niemand um Sicherheitsauflagen, die wir Forscher strengstens beachten müssen.
Wo liegt die Motivation von Sportlern, sich sogar mit der Manipulation ihrer Gene zu befassen?
Ein Sportler, der dopt, sitzt in der Klemme, wenn die Nachweisverfahren besser werden. Also sucht er nach Auswegen. Und ein Sportler, der dopt, ist schon per se bereit, mehr Risiken einzugehen.
Und zu spritzen, was er nicht kennt?
Nehmen Sie das Beispiel Marion Jones . . .
. . . die frühere Olympiasiegerin und Weltmeisterin im Sprint.
Es ist mir völlig unverständlich, wie jemand auf die Idee kommen kann, sich so viele unterschiedliche toxische Substanzen auf einmal in den Körper zu spritzen – ohne dass ihr irgendein Mediziner auf der Welt hätte sagen können, was diese Hormone bei ihr im Körper bewirken und wie sie interagieren. Für Sportler, die ähnlich denken, ist womöglich auch Gendoping kein Tabu.
Ist Gendoping das Doping der Zukunft?
Ja. In der Leistungsphysiologie ist die Grenze des Menschen sichtbar geworden, an der es selbst mit Talent, Training und konventionellen Dopingmethoden nicht mehr weitergeht. Genetische Veränderungen aber könnten für eine neuerliche Leistungssteigerung sorgen. Und wenn diese, vielleicht in zehn Jahren, in der Medizin zur Heilung von Krankheiten eingesetzt werden, spätestens dann kommen auch Sportler und werden diese Methoden anwenden.