Kliniken klagen über Patienten, die wegen Lappalien die Notaufnahmen verstopfen. Doch es ist eine neue Entwicklung hinzugekommen. Ein Besuch in der Esslinger Notaufnahme.
Wie es ihm gehe? Nun ja, meint der 83-Jährige auf dem Krankenbett, es gehe so. Eine dünne Decke verhüllt sein linkes Bein. Doch bevor Stephan Thomas, der leitende Arzt in der Notaufnahme des Klinikums Esslingen, die Decke vorsichtig zur Seite schiebt und den gewaltigen, an einigen Stellen violett gefärbten, linken Unterschenkel entblößt, stellt er dem Mann erst einmal Fragen. Warum er hier ist? Ob er Vorerkrankungen hat? Welche Medikamente er einnimmt? Ob er eine Allergie hat? Und dann, nach einem Blick auf den Monitor: „Haben Sie immer so einen schnellen Herzschlag?“ Der Mann verneint. Doch immer wieder piept die Maschine; ein Zeichen dafür, dass die Werte des 83-Jährigen auffällig sind.
Manche müssen im Gang liegen
An diesem Nachmittag ist in der Esslinger Notaufnahme viel los, einige Patienten liegen oder sitzen auf Liegen im Gang. Sie warten darauf, dass ein Zimmer frei wird. „Wir hätten zwar freie Betten, aber uns fehlt das Personal“, erklärt der Arzt Stephan Thomas (51). Es ist dieselbe Situation wie in vielen Krankenhäusern. Die Arbeitsbedingungen zermürben viele Pflegekräfte zunehmend, die Menschen suchen sich andere Jobs. Das führt dazu, dass die Belastung des verbliebenen Personals weiter ansteigt – und nicht so viele Patienten versorgt werden können, wie eigentlich räumliche Kapazität vorhanden wäre.
Auf dem Gang versucht ein Mann sich von seiner Liege aufzurichten – erfolglos. Er fuchtelt mit der Hand in der Luft herum. Eine Krankenpflegerin fragt ihn, was los sei. Es stellt sich heraus: Der Mann hatte den Lichtschalter gesucht, er wolle gerne schlafen, und es sei ihm zu hell. Die Pflegerin erklärt ihm: „Wir brauchen das Licht, um zu arbeiten.“ Der Mann nickt, schließt die Augen – und rollt sich auf die Seite.
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Ein anderer Mann versucht mehrfach einfach in die Notaufnahme hineinzumarschieren. An seinem Arm hängt eine Tasche mit Klamotten. „Ich will nur wissen, ob meine Frau noch lebt!“, ruft er der Pflegerin zu, die ihn abweist. „Sie lebt noch“, versichert ihm diese. Besuch sei in der Notaufnahme aber nicht erlaubt, der Mann müsse in den Wartebereich zurück, bis geklärt sei, ob seine Frau länger im Krankenhaus bleiben müsse. Verärgert brummelt der Mann vor sich hin, dann zieht er ab.
Jeder Patient erhält eine Farbe, davon hängt Wartezeit ab
In der Notaufnahme landen unterschiedlichste Menschen mit unterschiedlichsten Leiden: von Bauchschmerzen über Insektenstiche, Luftnot, Verletzungen bis hin zu Schlaganfällen. „In Zeiten von Google kommen auch manche mit der Überzeugung zu uns, dass sie einen Herzinfarkt haben – und es ist etwas ganz Harmloses“, sagt Stephan Thomas. Das medizinische Personal muss mit allem rechnen.
In seinem kleinen, fensterlosen Büro, das eher die Bezeichnung Kammer verdient hätte, zeigt Stephan Thomas, wie die Ärztinnen und Pfleger erkennen können, welcher Fall wie dringlich ist: Auf ihren Bildschirmen ist jeder Patient mit einer Farbe versehen. Wer in der Notaufnahme vorstellig wird, wird innerhalb kurzer Zeit in eine Kategorie eingeteilt.
Die meisten haben die Farbe Blau. Das bedeutet, sie sollten innerhalb von zwei Stunden behandelt werden. Wer einen grünen Balken hinter seinem Namen stehen hat, sollte innerhalb von 90 Minuten drankommen. Ernster wird es bei Patienten mit gelbem Balken, die sollten nach 30 Minuten behandelt werden. Und wer in die orangefarbene Kategorie fällt, muss innerhalb von zehn Minuten an der Reihe sein. Das trifft zum Beispiel auf alle zu, die bewusstlos waren sowie auf Menschen, die über Brustschmerzen klagen, erklärt Stephan Thomas. Bei diesen Menschen wird schnell ein EKG gemacht, um Herzprobleme auszuschließen. Und wer gerade einen Schlaganfall erlitten hat oder wiederbelebt werden musste, ist Kategorie Rot – das heißt: sofort behandeln. „Deshalb warten Patienten manchmal eine Stunde in der Notaufnahme – und dann kommen Leute nach ihnen und sind trotzdem früher dran“, erklärt Stephan Thomas. „Auch in einem leeren Wartebereich kann es manchmal dauern, bis man an der Reihe ist, sofern das eigene Leben nicht bedroht ist.“
Bei Halsschmerzen lieber erst mal eine Schmerztablette
In Kliniken stellt man fest, dass manche die Notaufnahme als Erweiterung ihrer Hausarztpraxis betrachten. In Esslingen merkt man das vor allem mittwochs- und freitagnachmittags: „Wenn die Hausärzte keine Sprechstunde haben, wird es bei uns voll“, sagt Stephan Thomas. Deshalb haben viele Kliniken – auch die in Esslingen – inzwischen integrierte Notfallpraxen für jene Patienten, die gerade bei ihrem Hausarzt keinen Termin bekommen.
„Es sind schon immer Menschen mit Bagatellen gekommen. Aber die Erwartungen sind heute andere“, sagt Stephan Thomas. Die Leute würden auch spätabends mit einer schnellen Behandlung rechnen, obwohl es sich um Dinge handele, die bis zum nächsten Tag warten könnten. Zwar sei eine Notaufnahme 24 Stunden geöffnet, aber nachts wäre nur eine kleine Mannschaft da. „Man sollte daher nicht um 23 Uhr kommen, wenn es sich nicht um einen echten Notfall handelt“, bittet er. „Für Lähmungen, Atemnot oder Bewusstlosigkeit; dafür sind Notaufnahmen da.“ Wer aber etwa nachts starke Halsschmerzen habe, solle zunächst eine Schmerztablette nehmen und am nächsten Tag zum Hausarzt gehen. „Die Alltagsunfähigkeit von vielen Leuten macht uns hier zunehmend Probleme.“
Ähnliches hört man aus anderen Notaufnahmen. Alexander Tsongas, der Sprecher der Regionalen Kliniken Holding (RKH), berichtet etwa, dass in den RKH-Notaufnahmen in den vergangenen zwei Jahren „etwas weniger“ Patienten verzeichnet wurden, sicherlich aus Angst vor einer Ansteckung mit Corona. „Inzwischen haben wir aber wieder in etwa den Stand vor Corona erreicht, so dass wir bald wieder nahezu am Limit angelangt sind.“
Eine Lungenembolie? Oder Lymphknoten?
Zurück ins Zimmer mit dem Mann mit angeschwollenem Bein. Schon seit mehr als zwei Wochen sei das so, er habe bereits Gummistrümpfe verschrieben bekommen und ein Antibiotikum, berichtet er. „Es wurde also angenommen, das ist eine Infektion“, schlussfolgert Stephan Thomas. Der Mann nickt, „es wurde dann auch deutlich besser, aber ging nicht ganz weg“. Vor wenigen Tagen fing er dann an zu husten. Der Arzt wirkt alarmiert: Die Kombination aus Schwellung und Husten könnte ein Anzeichen für eine Lungenembolie sein.
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Allerdings: Im Geldbeutel hat der 83-Jährige einen Zettel mit allen Medikamenten, die er einnimmt. Und darauf entdeckt Stephan Thomas auch Marcumar, ein Medikament, das die Blutgerinnung hemmt. „Das macht eine Thrombose mit Lungenembolie unwahrscheinlicher“, erklärt er. Eine andere Erklärung für das angeschwollene Bein könnten Lymphknoten sein, die sich in der Leiste gebildet haben, sagt er, denn der Mann hat Lymphdrüsenkrebs.
Grenzen zwischen Ärzten und Pflegekräften verschwimmen
Für mehr Gewissheit schickt Stephan Thomas den 83-Jährigen zum Ultraschall. „Danach sehen wir uns wieder“, verspricht Stefan Thomas dem Mann. Kurz darauf schiebt ihn eine Pflegerin mit dem Rollstuhl in Richtung Aufzug.
Bis der Mann zurückkehrt, geht Stephan Thomas wieder in sein fensterloses Büro. Und dann sagt er etwas, das man bei einem Arzt wohl kaum glauben würde: „90 Prozent der Zeit verbringe ich am Schreibtisch.“ Dennoch mag er seinen Job: „Hier erlebt man jeden Tag etwas anderes“, sagt er. Und die Grenzen zwischen Ärzten und Pflegekräften verschwömmen so stark wie sonst kaum irgendwo. Auch das gefällt ihm.
Ein paar Tage später meldet sich Stephan Thomas per Mail: Der Patient mit dem angeschwollenen Unterschenkel hatte, so wie er vermutet hatte, keine Thrombose, schreibt er. Was es genau war, dürfe er zwar nicht sagen. „Aber wir konnten es herausfinden und ihn noch am selben Tag wieder nach Hause entlassen.“
Vielleicht ist auch das ein Grund, warum Stephan Thomas trotz aller Belastungen so gerne in der Notaufnahme arbeitet: In der Regel können seine Kollegen und er den Menschen schnell helfen – ganz egal, ob es nun um einen Insektenstich handelt oder ein angeschwollenes Bein.
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