Jungen und junge Männer werden laut Zahlen der Bundesregierung zunehmend zu Tätern im rechtsextremistischen Kontext. (Symbolfoto) Foto: imago/Rolf Poss

Jungs werden laut Erhebungen öfter gewalttätig, begehen mehr rechtsextreme Straftaten – und manche werden zu frauenfeindlichen Incels. Aber wie groß ist das Problem wirklich?

Rechtsextreme Straftaten von Jugendlichen haben in Deutschland stark zugenommen. Das zeigen neue Zahlen der Bundesregierung. Die Täter sind demnach überwiegend Jungen und junge Männer. Bei Gewaltdelikten sieht es ähnlich aus.

 

Ein wesentlicher Teil befürwortet zudem Gewalt gegen Frauen, so eine Erhebung von Plan International von 2023. Serien wie „Adolescence“ kreieren zusätzlich ein Bild von einer Entfremdung der Geschlechter, einer sogenannten Incel-Kultur unter Jungs, bei der unfreiwillige Enthaltsamkeit mitunter in Frauenhass und Gewalt endet.

Aber ergibt das alles ein realistisches Bild der Jungen in Stuttgart? Wir haben bei Stuttgarter Jugendarbeitern nachgefragt, was in den Köpfen von Jungen hier los ist. Es geht dabei um vermeintliche Idealbilder, die in sozialen Medien präsentiert werden; darum, wie „männlich“ man sein soll, wie ein erfolgreiches Leben aussieht. In der Realität der Jungen stößt das auf persönliche Krisen und eine unsichere Zukunft. Dieser Widerspruch löst mitunter eine Überforderung aus, so der Tenor. 

Jungen haben Krisen, aber oft auch ein gutes Rüstzeug

Ein Besuch bei „Jungen* im Blick“ im Stuttgarter Westen, eine Beratungs- und Präventionsstelle für Jungen und junge Männer in Stuttgart. Die Sozialpädagogen Johannes Bayer und Robin Gröger empfangen bei Kaffee und Nusskranz zum Gespräch. In den Räumen hier können sonst Jungs bestimmen, worüber geredet wird. Dort soll auch mal eine Meinung geäußert werden können, bei der manche anderswo eine Augenbraue hochziehen würden, die man vielleicht als sexistisch abstempeln könnte. Das ist Teil des Konzepts, man will nicht sofort belehren, sondern verstehen, wo diese Meinungen herkommen.

Johannes Bayer (links) und Robin Gröger von „Jungen* im Blick“ Foto: Jungen* im Blick

„Wir können mit der Feststellung anfangen, dass es vielen Jungs gut geht“, sagt Gröger. Dennoch seien die Herausforderungen vielfältig: Zugehörigkeit finden, ein stabiles Selbst entwickeln, mit Krisen umgehen. Viele Jungs würden dafür aber ein gutes Rüstzeug mitbringen.

Darstellung von „perfektem Leben“ auf Social Media erzeugt Druck

Ein paar Kilometer Luftlinie weiter kümmert sich Mika Truckenmüller von der Mobilen Jugendarbeit in Stuttgart-Hallschlag um die Themen, die Jungen beschäftigen. „Es gibt viele Einflüsse, die auf Social Media gerade auf Jungs einprasseln“, sagt er. „Dort wird einem von vielen Seiten gezeigt, wie ein perfektes Leben aussieht.“ Er stelle als Folge viel selbstauferlegten Druck fest und höre Sätze wie: „Ich brauche jetzt eine Ausbildung“, „Ich muss jetzt Geld verdienen“, „Ich habe noch keine Partnerin“.

Hinzu kämen Zukunftsängste: „Manchmal bin ich ein bisschen baff, wenn ein 15-Jähriger vor mir steht und sagt, dass er eh mal keine Rente kriegt.“ Auf Social Media würde mit diesen Ängsten gespielt und vermeintlich einfache Lösungen für Probleme präsentiert.

Jungs wollen Logik und eine klare Anleitung

Johannes Bayer von „Jungen* im Blick“ sagt: „Jungs verlangen sehr viel nach Messbarem, nach Logik: Wie viel muss ich in einer gewissen Situation tun?“ Bayer weiter: „Es bietet Sicherheit, wenn mir eine Person, die ich gut finde, sagt, was ich zu tun habe.“ In dem Zusammenhang spielten in Gesprächen mit Jugendlichen etwa auch Dating-Coaches eine Rolle, ergänzt sein Kollege Gröger: „Der sagt mir genau, was ich zu tun habe, um Geschlechtsverkehr zu haben.“ Also auch hier: eine vermeintlich einfache Lösung mit klarer Anleitung sollen Unsicherheiten entgegenwirken.

In den Workshops gebe es immer wieder auch mal Leute, die sagen würden, Andrew Tate sei ihr Vorbild, sagt Bayer. Tate ist ein Influencer, der vor allem für frauenverachtende Aussagen bekannt ist. Er gehört zur sogenannten Manosphere, einem digitalen Raum, in dem es wahlweise darum geht, Frauen zu beherrschen oder Frauen die Verantwortung dafür zu geben, wenn es Männern schlecht geht. Diese Manosphere wird immer wieder als Einstiegsdroge in den Rechtsextremismus bezeichnet, weil sie ähnliche Männlichkeitsbilder bedient. Bayer sagt aber, die Jungen würden sich oft nur oberflächlich mit Tate, mit Geld, Macht und Status auseinandersetzen. Die Kosten dieser Ideale seien den Jungen aber oft nicht bewusst.

„Verfassungsfeindliche Inhalte in Klassenchats sind nicht selten“

Berührungspunkte mit extremistischen Inhalten gibt es offenbar immer wieder. Bayer und Gröger arbeiten mit „Jungen* im Blick“ an Schutzkonzepten in Schulen mit. „Im Zuge dieser Arbeit konnten wir beobachten, dass Themen wie beispielsweise verfassungsfeindliche, rassistische und sexistische Inhalte in Klassenchats leider keine Seltenheit sind“, so die beiden. Fast alle Schulen in Stuttgart hätten ihrer Aussage nach Erfahrungen damit gemacht.

„Darüber hinaus machen wir die Erfahrung, dass reaktionäre Kräfte gezielt die digitalen Räume von Jugendlichen versuchen zu erreichen. Mittel hierbei sind besonders Memes, vermeintlich bestärkende Elemente im Bereich von Männlichkeit und Abwertung von anderen Menschen. Diese Themen tauchen immer wieder in Beratungsprozessen und Gruppenveranstaltungen auf. Häufige Erklärung oder Schutzbehauptung ist häufig: ‚Das ist doch nur Spaß’“, so die beiden weiter. Inwiefern eine tatsächliche Radikalisierung stattfinde, könnten sie nicht sagen.

Vorstellung von Männlichkeit: „Ein Mann friert nicht“

Die vorherrschenden Vorstellung von Männlichkeit sei meist trotzdem eher eine traditionelle als eine extreme: stark sein, Familie versorgen, ein deutsches Auto fahren, erzählt Bayer. Und: „Ein Mann friert nicht.“

Die konkreten und traditionellen Bilder von Männlichkeit würden eben auch Sicherheit geben, sagt der Sozialpädagoge Bayer. „Aber wenn ich frage: ‚Wer in dieser Welt darf euer Bild von Männlichkeit bestimmen?’, dann kommt sehr schnell: ‚Niemand’!“, sagt Gröger.

Es werde auch schnell festgestellt, dass es utopisch ist, alle Vorstellungen von Männlichkeit zu erfüllen, ergänzt Bayer. „Egal, wie ich mich als Junge verhalte, es ist falsch. Es gibt keinen vorgegebenen richtigen Weg“, sagt er weiter. Entweder andere Jungs und Männer würden sich am Verhalten stören oder andere Menschen. Mit diesen Widersprüchen würden Bayer und Gröger arbeiten, versuchen zu zeigen, was Männlichkeit über die gesellschaftlichen Stereotype hinaus noch bedeuten könne.

Lieber gar nichts machen anstatt zu versagen

Druck, Zukunftsängste, widersprüchliche Erwartungen: Mika Truckenmüller von der Mobilen Jugendarbeit beobachtet unter diesen Bedingungen zunehmend auch junge Männer, die lieber gar nichts machen anstatt zu versagen. Sie hätten keinen Antrieb, etwas für Schule, Job oder Zukunft zu investieren, sagt er.

Mädchen hingegen würden sich stärker darauf fokussieren, was sie machen möchten. Diesen Freiraum wünsche er auch den Jungen. „Ich versuche Jungs zu bestärken, dass es mit 15 okay ist, nicht zu wissen, wo es hingeht. Ich will Mut zum Ausprobieren machen und zeigen, dass es Platz für Fehler und Misserfolg gibt.“

Soziale Medien sind nicht nur ein dunkler Ort

Müssen wir uns also Sorgen machen um Jungs und junge Männer in Stuttgart? „Natürlich haben sie Schwierigkeiten, aber viele Dinge funktionieren erstaunlich gut“, sagt Bayer.

Soziale Medien seien für Jugendliche nicht nur ein Ort mit problematischen Vorbildern. Auch Influencerinnen wie Marieejoan, bei der es viel um Sexualität und Konsens geht, würden in die Bubbles vordringen, fügt Gröger hinzu. Darauf könne man sich allerdings nicht verlassen. „Wir müssen als Gesellschaft präventiv gegensteuern. Am besten, indem wir Jungs stärken und nicht, indem wir sie schlechtreden“, so Gröger.

„Keine selbsterfüllende Prophezeiung schaffen“

Er sehe auch die Gefahr, dass die Erwartung der Gesellschaft an Jungs zu einer Problematisierung beitrage. Es gebe Probleme mit Jungen und jungen Männern, aber: „Man muss aufpassen, dass wir nicht durch Zuschreibung eine selbsterfüllende Prophezeiung schaffen“, so Gröger.

Und bei den Jungen, die auffällig werden, werde – auch in der politischen Diskussion – oft eines übersehen: „Jungs machen nicht nur Probleme, Jungs haben auch Probleme – und sie brauchen auch Hilfe“, sagt er.