Christian Schweizer macht die Führungen in Murrhardt. Foto:  

Es geht auch darum, dass sich sowohl der Betroffene als auch sein Angehöriger aus der – teilweise selbst gewählten – Isolation heraustrauen und wieder etwas gemeinsam erleben können, sagt die Demenzfachberaterin des Kreises. „Dafür bieten wir in Murrhardt einen geschützten Raum.“

Murrhardt - Es ist der Flieder, der die Aufmerksamkeit der ersten Stadtspaziergänger in seinen Bann zieht. Lila blüht der Busch mitten in Murrhardt – und der Stadtführer Christian Schweizer macht spontan Halt. Die Menschen riechen an den Blüten, fühlen die Blütenblätter und stimmen mit ein in das Flieder-Lied. Die Demenz, die einige in sich mittragen, hat dabei keine Bedeutung. Was zählt, ist der Moment – und der tut allen offensichtlich gut.

Seit diesem Mai gibt es in Murrhardt ein spezielles Angebot für Menschen mit Demenz und ihre Angehörige. Einmal im Monat besucht der Stadtführer Christian Schweizer markante Punkte in der Altstadt in der Kommune im Norden des Rems-Murr-Kreises. Bei Regen geht es spontan in das Carl-Schweizer-Museum, das Christian Schweizer leitet.

Initiative aus dem Landratsamt

Die Initiative dazu kam aus dem Landratsamt von Monika Amann von der Demenzfachberatung des Kreises – und in der Murrstadt traf die Idee bei der Volkshochschule (VHS) und ihrer Leiterin Birgit Wolf auf offene Ohren. „Wir wollen gemeinsam erreichen, dass Demente im Alltag Normalität erleben dürfen“, sagt Amann. Es gehe auch darum, dass sich sowohl der Betroffene als auch sein Angehöriger aus der – teilweise selbst gewählten – Isolation heraustrauen und wieder etwas gemeinsam erleben können. „Dafür bieten wir in Murrhardt einen geschützten Raum“, sagt Amann.

Geschützt heißt: Bei diesem Angebot können und sollen sich alle entspannen. Der Demente, weil er Anregung und Abwechslung von seinem Alltag erhält. Der Angehörige, weil er nicht schief angeschaut wird, wenn der Betroffene verhaltensoriginell reagiert – also nicht der Norm entsprechend handelt.

Doch warum ausgerechnet Murrhardt – ist doch die Demenzfachberatung für den gesamten Rems-Murr-Kreis zuständig? Die Antwort kommt von Stadtführer Schweizer: „Bei uns besteht die Notwendigkeit dafür“, sagt er. In Murrhardt liege ein Schwerpunkt auf Senioreneinrichtungen. Auf dem Land, gar wenn man in einem der kleinen, verstreuten Teilorte wohne, sei bei Demenz die Mobilität stark eingeschränkt.

Christian Schweizer wurde speziell für das neue Angebot angesprochen, weil er durch sein Privatmuseum und seine Führungen bereits Umgang mit unterschiedlichsten Menschen hat. „Aus der Erfahrung weiß ich, wie man wem etwas erklären kann“, sagt er und betont: „Eine Führung ist ja kein Frontalunterricht.“ Vielmehr müssten alle Sinne angesprochen werden, müssten Verknüpfungen im Kopf geschehen. Dass dies bei Schweizer funktioniert, das bestätigt Monika Amann: „Er hat die Gabe, auf Personen einzugehen und flexibel zu reagieren.“ So könne er auch mal bei Bedarf eine Führung abkürzen oder spontan umschwenken.

Die Wäscheklämmerle-Geschichte

Zum Verknüpfen von Erlebtem und der örtlichen Historie hat sich Schweizer bei der ersten Führung etwas Besonderes einfallen lassen: Er hat ein paar alte Holzwäscheklammern dabei. Zum einen, weil früher in Murrhardt viele Menschen Wäscheklämmerle geschnitzt und auf dem Markt als Zubrot verkauft haben. „Damals hieß unser Landstrich auch Klämmerles-Gäu“, sagt Schweizer schmunzelnd dazu. Zum anderen, um die Besucher über mehrere Sinne anzusprechen. Die Stadtspaziergänger dürfen die Klämmerle anfassen und haben so die Chance, sich auf diesem haptischen Weg an früher zu erinnern.

Das Konzept für den Stadtspaziergang für Menschen mit Demenz und ihre Angehörige haben alle Beteiligten gemeinsam entwickelt. So machten sie sich Gedanken um Details wie den Startpunkt, die Barrierefreiheit oder auch schlicht um die Möglichkeit, vor der Führung auf die Toilette gehen zu können.

Angelegt ist der Spaziergang auf etwa eine Stunde. Zum gemeinsamen Abschluss geht es anschließend auf eigene Kosten in einen Gasthof. „Murrhardt bietet so viel Reizvolles“, betont Monika Amann. „Wir haben hier ein großes Kulturleben“, sagt auch Birgit Wolf. In Murrhardt könne man einen ganzen Tag verbringen – mit Flieder oder auch ohne.

Auf der Suche nach Hilflosen

Es gibt sie immer wieder, diese versteckt lebenden, einsamen Senioren. Deren Familien nicht in der Nähe wohnen, die keinen Kontakt mehr pflegen zu Freunden, die nie zum Arzt gehen – und immer hilfloser werden, weil die Demenz sie heimsucht. Genau diese Menschen zu finden, das hat sich die Aufsuchende neutrale Kontaktstelle für Menschen mit Demenz (Anker) in Murrhardt zur Aufgabe gemacht.

„Wir versuchen, diese Menschen zu finden und sie an das bestehende Hilfesystem heranzuführen“, sagt Monika Amann von der Demenzfachberatung des Rems-Murr-Kreises. Und das ist gar nicht so einfach, wie sich im Alltag zeigt.

Als „Anker“ – angesiedelt als Projekt bei der Volkshochschule Murrhardt – im Oktober 2016 startete, wurden zunächst Flyer verteilt, wurden die Kirchen und die größeren Vereine in der Kommune angesprochen. Auch bei Ärzten, Apothekern und Physiotherapeuten sind Birgit Wolf, die Leiterin der der Volkshochschule, und ihre Mitarbeiterinnen Ute Guggenmos und Patricia Wirth vorstellig geworden. Doch alle älteren Bürger in Murrhardt anzuschreiben, ging aus Datenschutzgründen nicht. Auch schwierig sei die Scheu vieler Menschen, etwa die Defizite des Nachbarn an eine Kontaktstelle zu melden, haben Amann und Wolf festgestellt.

Aber: Seit der Gründung vor fast drei Jahren sei es immer öfter geglückt, Kontakte herzustellen zu den Menschen, die Hilfe brauchen, sich aber selbst nicht mehr helfen können. „Das ist ein innovatives Projekt – und es funktioniert“, sagt Birgit Wolf und wünscht sich, dass solch ein Angebot möglichst flächendeckend eingeführt wird.

Stadtspaziergang und Beratung allgemein

Spaziergang
Einmal im Monat findet der Stadtspaziergang für Menschen mit Demenz und ihre Angehörige statt. Der barrierefreie Rundgang beginnt bei der VHS, Obere Schulgasse 7, in Murrhardt. Bei schlechtem Wetter gibt es einen Rundgang durch das Carl-Schweizer-Museum, Seegasse 36. Das Angebot ist kostenfrei. Der nächste Stadtspaziergang findet am Donnerstag, 6. Juni, um 10.30 Uhr statt. Die nächsten Termine sind am 3. Juli, 1. August, 12. September, 10. Oktober, 14. November und 12. Dezember. Anmeldungen sind bei der VHS Murrhardt möglich unter der Nummer 07192/935816 oder per E-Mail unter info@vhs-murrhardt.de

Allgemein Die Demenzfachberatung des Rems-Murr-Kreises ist der erste Ansprechpartner in Sachen Demenz im Kreis. Wer Fragen dazu hat, Zweifel, ob er oder sein Angehöriger betroffen ist, wer weitere Infos zu den vorgestellten Angeboten braucht, kann sich an Monika Amann und Thomas Herrmann wenden. Kontaktmöglichkeiten bestehen per Telefon unter 0 71 51/5 01 11 80 oder per E-Mail unter demenzfachberatung@rems-murr-kreis.de.