Enrique Grahl und Kerstin Suhrborg in ihrem Element Foto: Gottfried Stoppel

In Schnait lehrt ein Weltmeister den Tanz der Leidenschaft. Die Geschichte, wie er in den Weinstädter Teilort kam, hat ebenfalls etwas mit Leidenschaft zu tun.

Weinstadt - Eine Gruppe junger Männer knattert mit Motorrädern durch Schnait. Ansonsten regt sich nicht viel in dem Weinstädter Teilort an diesem Mittwochabend – oberflächlich betrachtet zumindest. Denn nur wenige Meter von der Ortsdurchfahrt entfernt, in dem etwas versteckt gelegenen ehemaligen Sängerheim des Silchervereins wird zum Tango gebeten – und zwar von einem Weltmeister. Enrique Grahl gibt für die Tangofreunde Weinstadt dort Kurse.

Seit etwas mehr als einem Jahr bestehen die Tangofreunde. Ihre Gründungsgeschichte ist ebenso kurios wie die Tatsache, in der im besten Sinne schwäbischen, von Weinbau geprägten kleinen Ortschaft auf einen Tango-Weltmeister zu treffen.

Mit 16 die Leidenschaft zum Tango entdeckt

Wie holt man jemanden wie Enrique Grahl nach Schnait? Kerstin Suhrborg, die Vorsitzende der Tangofreunde, lacht, dass ihre blonden Krauslocken um ihr Gesicht hüpfen. So schwer sei das gar nicht gewesen. Sie kenne ihn von früher, habe vor 16 Jahren bereits ihre Leidenschaft für den Tango entdeckt, bei ihm Unterricht genommen bis sie schwanger wurde und habe, noch nicht allzu lange her, nach mehreren Jahren Kinderpause wieder mit dem Tanzen in seiner Schule in Stuttgart begonnen, holt Suhrborg weit aus für ihre Antwort. Als sie ihn im Januar 2018 dann gefragt habe, ob er sich vorstellen könne, auch in Schnait Kurse zu geben, habe er sofort zugesagt. „Ich dachte, das geht eh nicht lange“, räumt Grahl ehrlich ein.

Doch weit gefehlt. Kerstin Suhrborgs Sohn Max und Natalie, die Schwester seines besten Freundes, machten nach Kräften Werbung im Ort und verteilten Flyer – und das keineswegs uneigennützig. Denn sie sind die eigentlichen Gründer der Tangofreunde. „Nur aus Liebe zu meinem Sohn habe ich das alles hier gemacht“, sagt Kerstin Suhrborg. Etliche Sportarten habe der 15-Jährige auf der Suche nach einem Hobby bereits ausprobiert, ohne dass er sich für eine begeistern konnte – bis sie ihn einmal mit zum Tango tanzen nahm.

Der Plan: den Tango nach Schnait holen

Damit er dabei nicht in die Verlegenheit kommen sollte, mit seiner Mutter tanzen zu müssen, habe Natalie sie begleitet. Doch jede Woche mit nach Stuttgart zu kommen, sei für Max und Natalie auf die Dauer neben der Schule etwas viel geworden. Aber den Tango deswegen aufzugeben, kam für die beiden nicht in Frage. Ihre Idee zur Lösung des Dilemmas: sie holen den Tango einfach nach Schnait in ihren Wohnort. Im ehemaligen Sängerheim mit seinem großen mit Holzparkett ausgelegten Saal, das ihnen der neue Eigentümer, der Inhaber des örtlichen Lebensmittelmarktes, für mittwochabends zur Verfügung stellte, fanden sie ideale Bedingungen für ihr Vorhaben vor.

Aus den sechs Tanzpaaren zu Beginn sind inzwischen fast doppelt so viele geworden, die aufgeteilt in Anfänger und Fortgeschrittene jede Woche brasilianisches Flair in den schwäbischen Weinort bringen – vor allem auch durch ihren Lehrmeister Enrique Grahl. Als Kind kam er in den 1970er-Jahren mit seinen Eltern, Nachfahren deutscher Auswanderer, nach Deutschland. Auf der Suche nach seinen brasilianischen Wurzeln fing er als Teenager an, Tango zu tanzen, wurde 2002 zunächst Deutscher Meister und im Jahr darauf dann Vizeweltmeister in Buenos Aires und schaffte es 2006 bei den internationalen Titelkämpfen in Tokio schließlich ganz nach oben aufs Siegerpodest.

Tango ist für Enrique Grahl auch Rückenschule

„Damit hatte ich alles erreicht“, sagt Grahl, für den Tango nicht nur Tanzen ist sondern eine Art Lebensschule. Aufgrund einer angeborenen Hüftdyplasie hätten Ärzte seinen Eltern prophezeit, dass ihr Sohn mit zwölf Jahren im Rollstuhl sitzen werde, erzählt der 48-Jährige. Wer sieht, wie sich Grahl elegant über das Tanzparkett bewegt, kann kaum glauben, dass dieser je körperliche Beeinträchtigungen hatte. „Tango ist eine Rückenschule“, sagt der Tanzlehrer und praktizierende Physiotherapeut, dem es nach eigenem Bekunden nie allein um sportlichen Ehrgeiz ging. Vielmehr habe er sich mit den Gesunden messen wollen. „Menschen, die Tango tanzen, haben ein ganz großes Gefühl für Selbstbewusstsein, Präsenz und Ausstrahlung.“ Das wolle er seinen Kursteilnehmern vermitteln. Suhrborg nickt dazu. Doch trotz des vermehrten Selbstbewusstseins habe bei den Tangofreunden niemand Wettkampfambitionen. „Wir wollen einfach nur Tanzen lernen und Spaß haben.“

Die Tangofreunde Weinstadt freuen sich über Verstärkung. Wer möchte, kann einmal kostenlos reinschnuppern. Der Basiskurs für Anfänger findet mittwochs von 18.30 bis 19.30 Uhr an statt, im Anschluss beginnt der Aufbaukurs für Tänzer mit Vorkenntnissen“. Weitere Informationen über den Tango-Weltmeister findet man hier.