Berthold Leibinger hält viel von Fleiß und Sparsamkeit. Besonders wichtig ist ihm, dass die Menschen neugierig bleiben. Foto: factum/Weise

Der langjährige Trumpf-Chef Berthold Leibinger möchte Jamaika mit einem Entwurf für die Zukunft wiederbeleben. Eine große Koalition lehnt er ab.

Ditzingen - Für Berthold Leibinger hätte eine schwarz-rote Koalition den Makel eines Zusammenschlusses der Wahlverlierer. Entscheidend ist für ihn, dass die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft erhalten bleibt. Im Interview spricht er auch darüber, wie sich religiöse Prägungen auf die wirtschaftliche Entwicklung auswirken können. Dabei zeigt er sich keineswegs als pietistischer Fundamentalist.

Herr Leibinger, wie beurteilen Sie die politische Hängepartie, die sich gerade bei der Regierungsbildung in Berlin abspielt?
Ich bin darüber ebenso wie die große Mehrzahl unserer Bürger nicht erfreut, denn auch ich bin davon ausgegangen, dass wir nach dem 24. September schnell eine bürgerliche Regierung bekommen.
Was wünschen Sie sich jetzt für eine Regierung?
Am liebsten wären mir, aber das ist natürlich höchst unwahrscheinlich, neue Verhandlungen über eine Jamaikakoalition. Die Wiederauflage einer großen Koalition ist aus meiner Sicht keine gute Lösung. Dieser großen Koalition würde dann wohl der Makel eines Zusammenschlusses der Wahlverlierer anhaften.
Was ist Ihnen denn wichtig?
Ich frage mich, warum es nicht möglich sein soll, eine Vision für Deutschland zu entwerfen, auf die sich alle Beteiligten einigen können. Für mich ist das entscheidende Thema, wie wir unsere Wettbewerbsfähigkeit und unsere Exportfähigkeit erhalten und wie wir in diesen außenpolitisch herausfordernden Zeiten den Zusammenhalt in der Europäischen Union gewährleisten.
Hilft nur noch beten, damit dies Wirklichkeit wird und die parteipolitischen Machtspielchen in den Hintergrund treten?
Im Pietismus sagt man: „Werfet alle Sorgen auf ihn.“ Gemeint ist Christus, und das heißt beten und hoffen. Das allein genügt aber nicht. Wir brauchen Menschen, die mit Verantwortung und dem Bewusstsein für die wichtigen Themen konstruktiv zusammenarbeiten – und die Interessen der Bürger und der Wirtschaft für wichtiger erachten als die innerparteiliche Machtpolitik.
Sie sprechen den Pietismus an, an dem Sie ja viele gute Seiten finden. Doch ist er für die Wirtschaft wegen seiner Konsumfeindlichkeit nicht eher ein Hemmschuh?
Konsumfreudigkeit und die wirtschaftliche Entwicklung sind sicherlich keine vorrangigen Ideale des Pietismus. Jeder Schwabe, der sich mit der Geschichte befasst, kennt das Bild von Charlotte Reihlen „Der breite und der schmale Weg“. Auf dem breiten Weg gehen die Menschen fröhlich zu einem Tanzlokal, oben dampft eine Eisenbahn. Der breite Weg führt auf dem Bild geradewegs in die Hölle. Der schmale Weg hat viele Treppen, es gibt dort auch eine Hilfsanstalt für Arme. Dieser Weg führt ins Paradies. Früher hing das Bild im Flur in jeder besseren schwäbischen Familie im Unterland. Es soll ausdrücken, dass die Menschen nicht den verlockenden Weg des Vergnügens gehen sollten, wenn sie nach einem Leben streben, das Gott gefällt. Der Pietismus hat andere Ideale als Wohlstand und Wirtschaftsentwicklung.
Ein Ideal des Pietismus ist die Sparsamkeit.
Die Sparsamkeit ist ein religiöser Anspruch, der auch in der Bibel Beachtung findet. Doch Sparsamkeit und eine bescheidene Lebensführung waren, gerade auch in Württemberg, einfach nötig, weil das Land jahrhundertelang arm war. Es gab keine großen Ackerflächen, und wir hatten auch keine Bodenschätze. Sparsamkeit kann religiös begründet sein, oft ist es aber einfach auch der Zwang der Verhältnisse.
Auch Fleiß gilt als ein Ideal der Pietisten. Gott mag nach deren Ansicht keine Müßiggänger.
Im 19. Jahrhundert war in pietistischen Kreisen die Meinung weit verbreitet, Armut sei eine Schande, weil sie eine Folge des Müßigganges sei. Dieses Urteil lehne ich entschieden ab. Man muss sich nur vor Augen halten, dass der Sozialreformer Gustav Werner von den Pietisten heftig kritisiert wurde, weil er in Reutlingen in seinen „Wernerschen Anstalten“ Werkstätten für die Kinder armer Leute und für Waisenkinder eingerichtet hat. Das leiste der Liederlichkeit Vorschub, haben die Pietisten gesagt. Das Gegenteil war der Fall: Eines der Waisenkinder hieß Wilhelm Maybach, sein Lehrer war Gottlieb Daimler.
Sie sind zwar im „heiligen Korntal“ zur Schule gegangen, aber kein pietistischer Fundamentalist. Was halten Sie von dem Hinweis der Historiker, wer nur fleißig und sparsam sei, trage wenig zur wirtschaftlichen Entwicklung bei. Mit diesen beiden Tugenden sei noch lange keine Innovation in die Wege geleitet.
Professor Gert Kollmer-von Oheimb-Loup von der Universität Hohenheim weist in einem Buch tatsächlich wissenschaftlich nach, dass die Schwaben keinesfalls eine besondere Begabung als Erfinder hatten. Und es gibt auch keine direkte Verbindung zwischen Pietismus und einer industriellen Tätigkeit. Es gibt aber sehr wohl eine Verbindung zwischen Pietismus und Wirtschaften durch die pietistische Prägung im Land. Dabei geht es nicht nur um Fleiß, Sparsamkeit und Bescheidenheit. Es geht um den eigenen Weg zu Gott, der auch dadurch geprägt ist, mit den Fähigkeiten, die man mitbekommen hat, etwas Sinnvolles zu tun, um es etwas pathetisch zu sagen. Das ist ein Denkprozess. Und wenn man einen solchen Denkprozess vollzieht, beschränkt sich diese Denkfähigkeit nicht allein auf die Religion. Das Denken bringt Menschen hervor, die eigenwillig ihren Weg suchen.
Beschreiben Sie damit sich selbst?
In manchen Dingen vielleicht schon.
Inwiefern?
In den ersten 20 bis 30 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg gab es eine große Nachfrage nach Produkten aller Art. Als Unternehmer musste man damals fast zwangsläufig Erfolg haben, Pietismus hin oder her. Auch Trumpf war recht erfolgreich. Ich glaube aber, dass ich trotzdem nicht die Bodenhaftung verloren habe. Da hat wahrscheinlich nachgewirkt, was ich als Kind von meiner Großmutter und meiner Mutter gehört habe. Eine religiöse Prägung war also bei mir durchaus mit im Spiel.
Auch wenn Württemberg nicht unbedingt das Land der großen Erfinder war, vorangekommen ist es aber doch.
Ja, vielfach stehen wir bundesweit sogar an der Spitze. Ich glaube, man darf eben auch die kleinen Veränderungen nicht unterschätzen. Was hat denn Trumpf gemacht? Wir haben seinerzeit zwei Basiserfindungen übernommen. Wir haben die Computersteuerung – die sogenannte numerische Steuerung – in unsere Maschinen eingebaut. Das hat zu einer deutlichen Steigerung der Produktivität geführt. Das war unser erster großer Erfolg. Und der zweite war die Einführung des Lasers zur Blechbearbeitung. Mit dem Laser kann man schneiden oder schweißen. Den Wirkungsgrad des Lasers haben wir inzwischen deutlich gesteigert. Die Verbesserung eines Grundprinzips ist in meinen Augen nichts Schlechteres als eine komplett neue Erfindung. Vorhergesagt hat den Laser, präziser die Möglichkeit der Lichtverstärkung, bereits Albert Einstein in einer Veröffentlichung 1917. Theodore Maiman, ein Amerikaner, stellte dann 1960 den ersten Rubinlaser fertig. Wir haben bei Trumpf dann sehr viel daraus gemacht. Das ist vielleicht eine typisch schwäbische Entwicklung. Wir sind möglicherweise ebenso gute Verkäufer unserer Produkte wie Erfinder.
Es heißt oft, die Protestanten brächten wirtschaftlich eher etwas zustande als die Katholiken. Aber im katholischen Rheinland standen die ersten Fabriken schon lange vor der Industrialisierung in Württemberg.
Dort gab es, anders als bei uns, auch Kohle und Eisenerz, und natürlich eine Textilindustrie. Einen Vorsprung vor Württemberg hatten aber vor allem Sachsen und die Schweiz. Die Sachsen und die Schweizer hatten bessere Schulen, wir haben nachgezogen. In einer Untersuchung zum Schulwesen schreibt ein Landtagsabgeordneter aus dem 19. Jahrhundert, dass die Schwaben bei entsprechender Anleitung durchaus zu industrieller Tätigkeit geeignet seien. Die Grundlage dafür wurde schon früh geschaffen. Herzog Christoph verknüpfte die große Kirchenordnung von 1559 mit einer Schulordnung und führte Lateinschulen ein. Auch Mädchen konnten übrigens in die Schule gehen – sie sollten die Bibel lesen können.
Herr Leibinger, Sie haben einen enormen Erfahrungsschatz. Was wollen Sie jüngeren Generationen mit auf den Weg geben?
Ich glaube, es ist eine der wichtigsten Aufgaben, dafür zu sorgen, dass die Menschen neugierig bleiben. Wir dürfen keine Gesellschaft züchten, die sich im Wohlstand und in der Sonne rekelt und sich nicht mehr bewegt. Bei Trumpf ist es geglückt, diese für den Fortschritt nötige Unruhe zu erhalten.