Der Normale: Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller Foto: dpa

Woanders, da lieben alle Berlin. Aber zuhause hat der Regierende Bürgermeister Michael Müller es nicht so leicht.

Berlin - Wenn einer eine Brücke zwischen den Menschen und dem lieben Gott bauen will, dann muss er wohl irgendwo dazwischen zuhause sein. In diese ferne Sphäre hineinzugelangen ist für Normalsterbliche nicht ganz leicht. Eine Schranke, vier mittelalterliche Toreinfahrten, dann ist man im Damasushof des Vatikans, im Blick den Apostolischen Palast. Schweizergardisten lassen ihre Hellebarden im Licht blitzen. Die Sonne gleißt über die Fassaden. Hinter den Fensterbändern im zweiten Stock sind alle Gardinen zugezogen, kein ungebetener Blick hat eine Chance. Hier arbeitet Jorge Bergoglio, von Beruf Papst. Auf geht’s nach oben.

„Eigentlich skurril“, sagt Michael Müller, der amtierende Präsident des deutschen Bundesrats und Regierende Bürgermeister Berlins, eine gute Stunde später. Da sitzt er wieder höchst diesseitig im Fond einer durch Rom stotternden Limousine und ist beeindruckt von seiner ersten Begegnung mit dem Heiligen Vater. Saal um Saal musste durchschritten werden, lange Wege, riesige Räume, und von Etappe zu Etappe weniger Begleiter. Die letzten drei Säle war Müller allein. „Man kann körperlich spüren, wie man mit jedem Meter der Welt entrückt wird“, sagt er. Hinter der letzten Tür stand dann, ganz in weiß, recht klein und schmal, Franziskus. „Da fühlt man die Einsamkeit des Amts.“

Es klingt in diesem Moment, als rede Michael Müller nicht nur vom Papst. Seit dreieinhalb Jahren regiert der 54-jährige jetzt Berlin. In dieser Zeit ist das ohnehin schon immer eckige Gesicht noch ein bisschen kantiger geworden, das Lächeln noch ein bisschen zwiespältiger.

Papst sorgt sich um die AfD

Hier in Rom lächelt und spricht es sich natürlich freier. Müller sitzt nun auf der Dachterrasse eines Hotels mit Blick auf den Petersdom, und redet voller Bewunderung über Franziskus. Sie haben über die Lage der Flüchtlinge gesprochen, darüber, wie der Papst „mit Sorge beobachtet, welche neuen populistischen Bewegungen“ sich in Europa entwickelten, – auch und namentlich die AfD. Er finde es „dramatisch wichtig“, dass der Papst sich politisch involviere“ und in solch „schwierigen Zeiten diese Rolle vom Papst angenommen wird“.

Vor ihm sitzen römische Journalisten, die genau solche Sätze möchten. Für sie ist er an diesem Tag vor allem Bundesratspräsident und Bürgermeister, der tags zuvor den deutschen Pavillon auf der Architekturbiennale in Venedig eröffnet hat und nachher noch die glücklose römische Kollegin Virginia Raggi besuchen wird. Das Desinteresse am Berliner Klein-Klein ist vielleicht das Schönste an diesem Moment.

Es sind zwei kurze Tage, die Müller genießt, nicht, weil er hier vor Problemen wegrennen könnte – ständig blinken auf seinem Smartphone Nachrichten aus der heimischen SPD. „Auf solchen Reisen“, sagt er, „da spürt man das, was manchmal zuhause vergessen wird.“ Am Vortag in Venedig war sie mit Händen zu greifen, diese Magie Berlins, in deren Kraftfeld sich so viele Menschen gerne hineinschieben: Im deutschen Pavillon haben die Berliner Architekten des Studios Graft zusammen mit der Bürgerrechtlerin Marianne Birthler eine große Erzählung darüber ersonnen, was eine Mauer, eine Grenze mit Menschen und mit Städten anrichtet. Und im Fall Berlins heißt das immer auch: das erstaunliche Zusammenwachsen binnen 28 Jahren zu zeigen, und seine Wundränder.

Die Welt gratuliert Michael Müller zu Berlin

Hier ist Michael Müller praktisch der Mann, dem die Leute zu seiner Stadt gratulieren „Überall in der Welt“, sagt er, „da sprechen mich die Menschen darauf an, wie toll Berlin ist. Und auch darauf, was wir geschafft haben in 28 Jahren. Da ist ja auch wirklich etwas gelungen.“

Stimmt. Hilft aber politisch nicht. Am nächsten Abend geht es zurück an der Spree, und vor Müller liegt eine neue Woche der Unerfreulichkeiten. Da geht es um besetzte Häuser, die vom SPD-Innensenator flugs wieder geräumt wurden, was die Koalitionspartner erzürnt. Um ein Mobilitätsgesetz, das zwar das bundesweit erste ist, aber stagniert. Um den Wohnungsbau, der nicht so vorankommt wie versprochen. Und um einen SPD-Parteitag, auf dem zähe Auseinandersetzungen drohen.

Das Geschäft in der Hauptstadt ist kein einfaches. Die Probleme sind schon so lange dieselben, dass es scheint, als bewege sich gar nichts – das mag eine ungerechte Betrachtungsweise sein, weil manche Lösung einfach Zeit braucht. Aber Zeit, die hat man in der Politik keine.

Müllers Landesregierung – das erste rot-rot-grüne Projekt unter SPD-Führung – ist die unbeliebteste der Republik, auch das keine neues Phänomen für Berlin. Die SPD hat es nach einem Wahlsieg mit dem historischen Tief von 21,6 Prozent im Jahr 2016 inzwischen geschafft, in Umfragen nicht mehr Seniorpartner in der eigenen Koalition zu sein. Mit 18 Prozent liegt sie vier Punkte hinter den mitregierenden Linken und gleichauf mit den Grünen.

Ein Kümmerer fürs wachsende Berlin

Als Müller antrat – gewählt von der Parteibasis als Nachfolger von Klaus Wowereit, diesem Mann mit Sonnenkönigaura – da war sein Versprechen eine Art Gegenprogramm zum Vorgänger. Gesagt hat das natürlich keiner so. Aber der Applaus, den er im parteiinternen Wahlkampf erhielt, wenn er sagte: „Ich bin nicht wie Klaus Wowereit“, der war stabil und sollte wohl so etwas heißen wie : Arm, aber sexy waren wir lang genug, jetzt wäre es schon, wir würden auch mal einen Termin beim Bürgeramt kriegen. Er trat an zu einem Zeitpunkt, als die Republik auf einmal viel Gefallen an Regierungschefs fand, denen man nicht viel Strahlkraft, dafür aber den Anschein totaler Normalität bescheinigen kann. Das „Leben der kleinen Leute“ wolle er besser machen, sagte Müller damals, eine „solidarische Stadt“ schaffen.

Die Stadt nämlich, vor ein paar Jahren noch vor allem pleite, hat enorme Wachstumsschmerzen: Jedes Jahr kommen 40 000 Neuberliner hinzu, und sie treffen auf Strukturen, die nicht funktionieren, klein gespart wurden oder über die der freie Markt, wie es so seine Art ist, hergefallen ist: Am beängstigendsten ist die Wohnungsnot. Die Mietpreise haben sich vervielfacht, Menschen müssen nach vielen Jahren ihr Viertel verlassen, weil sie einfach nicht genug verdienen. Polizei und Feuerwehr sind überlastet, es gibt zu wenige Lehrer, Erzieherinnen, Krankenpfleger, Kitaplätze, Mitarbeiter in den Verwaltungen. Der Verkehr funktioniert immer schlechter, die Bahnen sind überfüllt und ständig defekt.

Niederlagen stählen und machen misstrauisch

Das sind alles dicke Brocken für eine Regierung und es dauert, sie den Berg hochzurollen. Wie kriegt man das hin? Müller ist ein erfahrener Sysiphos, er kennt die Stadt, er kennt seine SPD. Als er das Amt übernahm, hatte er 18 Jahre als Abgeordneter hinter sich, zehn Jahre davon als Fraktionschef, acht an der Spitze der Partei, zwei als Senator – und er wusste seit einem Putsch 2012 auch, wie bitter es schmeckt,wenn Genossen sagen: das war es. Kränkungen können stählen, aber sie machen auch misstrauisch und verletzbar. Nun wagt ausgerechnet dieser Regierungschef etwas. In der strukturell linken Stadt Berlin traut man sich ein rot-rot-grünes Regierungsprojekt – das genau in dem Moment antritt, in der es darum geht, den zerbrechlichen Esprit dieser Stadt auch in einer Phase des Wachsens und Gedeihens zu erhalten: nämlich die Idee, wonach sie allen gehört.

Von Anfang an waren sich die Koalitionspartner einig: Dafür braucht es Augenhöhe statt Koch und Kellner, es braucht einen Chairman, einen, der sich bei aller Ressortzuständigkeit der anderen ums Große Ganze kümmert – einen Moderator. Davon ist nun, nach eineinhalb Jahren, wenig zu spüren.

Wie wenig diese Rolle Michael Müller auf den Leib geschneidert ist, wird abseitsder Landespolitik deutlich. Neulich machte einVorschlag Müllers an seine Partei Furore: Hartz IV könne perspektivisch überwunden werden durch ein „solidarisches Grundeinkommen“. Worin genau der Unterschied zum „öffentlich geförderten Beschäftigungssektor“ der Linken liegt, können nur Experten erklären. Gemeinsamkeiten sind ja keine schlechte Sache in einer Koalition. Wenn sie so präsentiert werden. Die Linke, so feixte Müller in einem Interview, werde sich sicher über seine Idee ärgern. Wofür das gut sein mag?

Später Nachmittag in Rom. Müller hat seinen letzten Termin, Besuch auf dem Kapitol bei Kollegin Raggi. Infrastruktur, Wohnraum, Stadtplanung – in der Stadt am Tiber würden sie wohl manches Berliner Problem nicht so dramatisch sehen. Eine gewisse Chaos-Resilienz scheinen die Bewohner in sich zu tragen. Lösungen für Probleme? Von Raggi hört man an diesem Tag nichts dazu. Aber eins noch, zum Abschied: „Berlin ist eine so tolle Stadt. Ich komme gern einmal vorbei.“