Sie spielt ein mongolisches Cowgirl, das weiß was es will: die Schauspielerin Dulamjav Enkhtaivan kann auf einen Silbernen Bären hoffen Foto: AFP

Die Berlinale-Jury ist nicht zu beneiden: In einem sehr mittelmäßigen Feld gibt es nur wenige klare Bären-Anwärter.

Berlin - Jetzt ist mal gut – diese Stimmung liegt über dem Potsdamer Platz, diesem seltsamen Investoren-Ensemble, das Berlin bis heute fremd geblieben ist und keine Anbindung an umliegende Stadtteile findet. Dieter Kosslicks Berlinale-Ära endet, und diesmal wurde offensichtlicher denn je, was ihn als Kritik 18 Jahre lang begleitet hat: Der Wettbewerb war diesmal nicht nur schmal bestückt, sondern derart mittelmäßig, dass eine Bären-Prognose schwerfällt. Es fehlten Glanzpunkte wie Asghar Farhadis iranisches Gesellschaftsdrama „Nader und Simin“ (2011) oder Richard Linklaters Langzeitprojekt, „Boyhood“ (2014), für den Goldenen Bären drängt sich kein einziger Film auf.

Symptomatisch: der dreistündige chinesische Film „So long, my Son“. Ein Auto fährt vor, ein Mann steigt aus, zündet eine Zigarette an, trottet zu seiner Werkstatt, setzt sich, raucht. Und sitzt. Und raucht. Und die Zuschauer sitzen. Und ihr Interesse verraucht. Auf die Hälfte gekürzt hätte dieser Film stark werden können, denn er blickt kritisch auf 30 Jahre chinesischer Geschichte. Ein tödlicher Unfall und eine erzwungene Abtreibung wegen der Ein-Kind-Politik zerreißen Freundschaften, Arbeiter entreißen Parteifunktionären die Liste mit den Namen deren, denen gekündigt werden soll, Peking ist binnen weniger Jahre praktisch neu erbaut und nicht wiederzuerkennen – all das ging durch die Zensur. Die Handlungspausen machen den Film dennoch Bären-untauglich.

Das Mafia-Virus befällt nun schon Jugendliche

Der Goldene Bär sollte an einen Film gehen, der etwas Besonderes ist und bietet, doch fast überall hakt es an überlangen Geschichten – weshalb die Jury um Juliette Binoche auch beim Silbernen Bär für das beste Drehbuch kein leichtes Spiel hat. Der Große Preis der Jury könnte an „Öndög“ gehen, Wang Qan’ans total entschleunigtes mongolisches Steppendrama, oder an „Synonymes“, die Geschichte eines jungen Israelis, der mit aller Macht Franzose werden möchte und feststellt, dass es ihm weder die Wahlheimat noch seine eigenen Wurzeln leichtmachen. Beim Alfred-Bauer-Preis, der neue Perspektiven würdigt, kommt „Systemsprenger“ in Frage, Nora Fingscheidts Spielfilmdebüt, in dem sie zeigt, dass deutsche Pädagogen kein Kind aufgeben, auch nicht scheinbar hoffnungslose Totalverweigerer. „The Kindness of Strangers“ gibt in Zeiten des Populismus Hoffnung, dass die Menschen sich nicht spalten lassen, und „Der Clan der Kinder“ zeigt, dass das Virus der organisierten Kriminalität in Süditalien inzwischen schon Jugendliche befällt.

Als beste Regisseurin kommt Angela Schanelec in Frage, deren Filmkunstwerk „Ich war zu Hause, aber“ kein Publikumsfilm ist, aber als Familiendrama mit Performance-Charakter und Shakespeare-Referenzen einen starken künstlerischen Gestaltungswillen aufweist. Der Silberne Bär für die beste Darstellerin wäre gut aufgehoben bei Dulamjav Enkhtaivan, die in „Öndög“ als abgebrühtes mongolisches Cowgirl genau weiß, was sie will – oder bei Natalia de Molina und Greta Fernández, die in „Elisa & Marcela“ wunderbar strahlen als diskriminiertes lesbisches Paar im Jahr 1901 spielen.

Preiswürdig: Jonas Dasslers Monster-Maske

Bei den Herren sticht Bill Nighy heraus, der in „The Kindness of Strangers“ eine kleine Nebenrolle als herrlich ironischer Gentleman hat. Der Franzose Swann Arlaud brilliert in Francois Ozons tränenrührigem katholischem Missbrauchdrama „Grace à dieu“ als Opfer, das mit Schnauzbart und Motorrad Männlichkeit zur Schau stellt, um seine Empfindsamkeit zu kaschieren. James Norton macht in „Mr. Jones“ einen Reporter in der vom Hunger geplagten Ukraine des Jahres 1933 zur Nervensäge, die sich nicht beirren oder abschütteln lässt. Und Jonas Dassler verleiht dem Frauenmörder in „Der goldene Handschuh“ trotz allem eine gewisse Menschlichkeit.

Im Rennen um den Silbernen Bären für eine herausragende künstlerische Leistung könnte „Öndög“ sein, „Ich war zu Hause, aber“, Hans Petter Molands in den norwegischen Wald eingebettetes Familiendrama „Pferde stehlen“ – und Fatih Akins inhaltlich und dramaturgisch verunglückter „Handschuh“ dank Dasslers Monstermaske in der St. Pauli-Kulisse der siebziger Jahre.

Die Präsenz des deutschen Films war größer als sein Gewicht

Viele Filme liefen in der Ära Kosslick außer Konkurrenz. Sie hübschten den Wettbewerb auf und brachten Stars auf den roten Teppich, waren aber schon woanders gelaufen oder in den USA schon vor Weihnachten im Kino, um sich für die Oscars zu qualifizieren. Sie werden eine Woche nach Festival-Ende vergeben, und diese ewige Termin-Kollision hat die Berlinale geschwächt. Ob die nun beschlossene Verschiebung auf Ende Februar Abhilfe schafft, muss sich zeigen. Das Gefälle wäre ohnehin zu groß: Adam McKays bitterböse Politsatire „Vice“ mit Christian Bale als Dick Cheney, Sam Rockwell als George W. Bush und Steve Carell als Donald Rumsfeld spielt in einer ganz anderen Liga, direkt gefolgt von der „Agentin“, großem Schauspielerkino mit Diane Kruger und Martin Freeman. Ein Preis zumindest ist unstrittig: Der Silberne Ehrenbär für Charlotte Rampling, die oft und gerne nach Berlin kam, zuletzt mit dem Ehedrama „45 Years“. Sie repräsentiert das alte Kino, das im rasanten Zeitenwandel zunehmend unter Druck gerät. Auch deshalb braucht die Berlinale einen Neuanfang.

Dieser könnte sich auch auf den deutschen Film auswirken, dessen Präsenz unter Kosslick stets größer war als sein internationales Gewicht. Davon hat auch Baden-Württemberg profitiert, besonders Absolventen der Ludwigsburger Filmakademie: 2010 lief im Wettbewerb Burhan Qurbanis Islamdrama „Shahada“, 2016 Anne Zohra Berracheds Abtreibungsdrama „24 Wochen“, aktuell „Systemsprenger“ – und in der „Perspektive deutsches Kino“ „Das innere Leuchten“ von Stefan Sick, ein einfühlsamer Dokumentarfilm über Demenzkranke und ihr Umfeld in einem Stuttgarter Heim.

Ein großes Pfund immerhin erben die neuen Berlinale-Leiter Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek: Das Interesse des Publikums und der Presse am Festival sind ungebrochen, die Säle waren auch diesmal wieder voll – ganz gegen den Streaming-Trend.