Die hochtalentierte Helena Zengel ist als Benni in „Systemsprenger“ völlig außer Rand und Band Foto: Berlinale

Traumatisierte Kinder prägen den zweiten Festivaltag. „Systemsprenger“ erzählt von einer Neunjährigen, die sich nirgends einfügen kann, „Grace à dieu“ von den Opfern pädophiler katholischer Priester.

Berlin - Kindesmissbrauch durch katholische Geistliche gehört zu den schändlichsten Verbrechen, denn die Täter nutzten ihre Machtposition und gehören einer Einrichtung an, die Moral predigt und – platonische - Nächstenliebe. Mindestens genauso schändlich ist, wie die Kirche traditionell vertuscht, verschweigt und die Kinderschänder in andere Gemeinden versetzt, wo sie nicht selten weiter ihr Unwesen treiben. Papst Franziskus hat das endlich offen angeprangert und Besserung gelobt. Der Druck ist auch gewachsen, weil sich immer mehr Opfer an die Öffentlichkeit wagen.

Einen ganz aktuellen Fall aus Lyon hat Francois Ozon in seinem aktuellen Film „Grace à dieu“ („Gottseidank“) aufgegriffen. Er erzählt von drei Männern, die Jahrzehnte später die Traumata ihrer Kindheit aufarbeiten und einen pädophilen Priester zu Fall bringen wollen, der immer noch Kinder betreut. Ozon bleibt nah an den Opfern, geht tief hinein in die Gefühle auch der Familienangehörigen und vermittelt einen Eindruck davon, wie schwer die psychische Last sein muss. Allerdings bedient er sich einer irritierenden Dramaturgie: Er springt von Protagonist zu Protagonist und verliert die jeweils anderen mitunter lange aus den Augen. Man kann „Grace à Dieu“ also nicht vergleichen mit Tom McCarthys thematisch ähnlich gelagertem, Oscar-prämiertem Thriller „Spotlight“ (2015). Ein wichtiger Beitrag bleibt Ozons Werk dennoch, in dem der inzwischen real angeklagte Kardinal von Lyon, Philippe Barbarin, sich bei einer Pressekonferenz verspricht und sagt: „Gott sei dank sind die meisten Fälle verjährt.“

Ozon bleibt dicht an den Opfern

Nach der Aufführung seines Film im Wettbewerb der Berlinale sagt der Regisseur am Freitag auf der Pressenkonferenz: „Eigentlich wollte ich einen Dokumentarfilm machen, aber nachdem sich die Opfer mir anvertraut und sehr intime Dinge erzählt hatten, war klar, dass man das nicht vor der Kamera wiederholen sollte. Darum bin ich in die Fiktion gegangen. Ich wollte aber eindeutig auf der Seite der Opfer bleiben und keinen Polit-Film machen, sondern einen Bürgerfilm.“

Von einem Kind, das keine Kontrolle über seine Emotionen hat, ständig ausrastet und deswegen nirgends ein Zuhause findet, erzählt in ihrem Langfilmdebüt „Systemsprenger“ Nora Fingscheidt. Sie ist Absolventin der Ludwigsburger Filmakademie, und eine solche war schon vor zwei Jahren im Berlinale-Wettbewerb: Anne Zohra Berrached mit dem beinharten Abtreibungsdrama „24 Wochen“. Die aktive Förderung junger Frauen durch das Festival ist nicht die einzige Parallele, wie damals Berrached geht auch Fingscheidt konsequent dahin, wo es wehtut.

Benni bedroht einen Erzieher mit dem Messer

Die neunjährige Benni kann ein zauberhaftes blondes Engelchen sein, im nächsten Moment aber eine Furie, die wüsteste Kraftausdrücke brüllt, den Kopf einer Mitschülerin auf die Tischplatte knallt, mit Bobbycars Scheiben einwirft oder Erzieher mit dem Messer bedroht. Die überforderte Mutter, die Frau vom Jugendamt, die Lehrerin und diverse Wohngruppenerzieher beißen sich die Zähne aus. Virtuos ziehen Fingscheidt und ihr Kameramann bei der Bildgestaltung alle Register: In Schlaglichtern visualisieren sie das Trauma des Mädchens, und sie machen seine unbändige Energie sichtbar, indem sie ihr in ihrem Rhythmus mit der Handkamera folgen.

Natürlich kann so eine Geschichte nicht gut ausgehen. Für den Film selbst indes schon, alle möglichen Bären sind hier denkbar – nicht zuletzt für die kleine, hochtalentierte Helena Zengel. Die sagt bei der Pressekonferenz, geschult wie ein Profifußballer, artig Textbausteine über den tollen Dreh und die tolle Erfahrung auf. „Ich habe mit Mama das Drehbuch gelesen und darüber geredet, wie fühlt sich das Kind, warum ist das so, was passiert mit dem Kind innerlich“, erzählt sie, „Schwierig war manchmal, zu weinen, das ist auf Knopfdruck nicht einfach.“ Helenas Seele scheint unversehrt aus der harten Geschichte hervorgegangen zu sein – in Berlin ist sie ganz das blonde Engelchen.

Als Frau Regie führen? Ganz normal!

„Ich wollte schon lange einen Film über ein wildes, wütendes Mädchen machen“, sagt Fingscheidt. „Vor sechs Jahren dann kam beim Dreh einer Doku in einem Heim für wohnungslose Frauen eine 14-Jährige an und die Betreuerin sagte: Das sind die Systemsprenger. Und ich dachte: Was ist das für ein Wort? Das wird nur inoffiziell verwendet und ist sehr umstritten, weil es den Kern der Sache nicht trifft: Nicht die Kinder machen ein System kaputt, sondern die Systemprozesse scheitern.“ Das Drehbuch sei noch während ihres Studiums entstanden, eigentlich für ihr Diplom, sagt sie, „im geschützten Rahmen mit toller dramaturgischer Begleitung und sehr langer Intensivrecherche“.

Und wie ist das nun, als Frau Regie zu führen? Ganz normal, offenbar: „Mir persönlich wurden aufgrund meines Geschlechts nie Steine in den Weg gelegt“, sagt Fingscheidt. „Ich habe das Glück, in einer Generation aufgewachsen zu sein, in der mir viele Türen schon offenstanden. Das habe ich den Generationen vor mir zu verdanken, die das erkämpft haben.“