70er-Jahre Tristesse: Jonas Dassler als Fritz Honka, Margarete Tiesel als Gerda Voss in „Der goldene Handschuh“ Foto: Berlinale

Der Hamburger Regisseur Fatih Akin verwehrt dem Serienkiller aus Heinz Strunks Roman „Der goldene Hanschuh“ die Motivation, im Berlinale-Wettbewerb insgesamt grassieren Langsamkeit und Überlänge.

Berlin - Lang sind die Tage in der mongolischen Steppe, und die Nächte noch viel länger. Der chinesische Regisseur Wang Qan’an lässt sich in „Öndög“ auf den Takt dieser Landschaft und ihrer Bewohner ein. In der Weite wird eine Frauenleiche entdeckt, und in der Folge ist nichts mehr wie es war für eine eremitische Viehirtin, ein Pferde und Kamele reitendes Flintenweib, und einen jungen, hinter den Ohren grasgrünen Polizisten. Wie in Zeitlupe flaniert die Handlung voran in diesem von sanftem Humor getragenen Entschleunigungsepos, das intime Einblicke in die sich wandelnde mongolische Kultur bietet. Für Wangs Qan’an ist es eine Art Update zu seinem Film „Tuya’s Hochzeit“ (2006), mit dem er in Berlin des Goldenen Bären gewann.

Mit „nur“ 100 Minuten Laufzeit ist „Öndög“ eine Ausnahme in diesem Berlinale-Wettbewerb, denn er ist langsam, aber gemessen an den früher üblichen 90 Minuten kaum überlang. Die meisten anderen Beiträge sind beides – als wären lange Einstellungen per se Kunst, als wollten die Filmemacher sich bewusst absetzen von rasant erzählter Streamingware. Der neue Geist aber, hochverdichtete, schnelle Plots, wird nicht wieder in der Flasche verschwinden, zumal Qualitätsserien hochvisuell arbeiten und bewusst Momente des Innehaltens einbauen: In der Thriller-Serie „Homecoming“ mit Julia Roberts etwa verharrt die Kamera einmal pro 45-Minuten-Episode lange statisch auf einem Motiv, einmal auf einem schimpfenden Pelikan, der als Jux auf den Schreibtisch von Roberts’ Figur befördert worden ist.

Die Zuschauer müssen vieles selbst erraten

Insgesamt schwierig ist „Der Goldene Handschuh“ (110 Minuten) von Fatih Akin, der 2004 mit „Gegen die Wand“ den Goldenen Bären gewonnen hat. Der Hamburger schien die Idealbesetzung, um Heinz Strunks in den 70ern spielenden St.-Pauli-Roman zu verfilmen. Dieser aber ist durchzogen von inneren Monologen, allen voran des entstellten Alkoholikers und Frauenmörders Fritz Honka. Sie erklären die vernebelten Motivationen am gesellschaftlichen Bodensatz, um den es hier geht. Akin hat sie nicht ins Bild übersetzt – er zeigt in üppiger 70er-Jahre-Kulisse und zu Schlagern von Heintje und Adamo nur die Horror-Oberfläche: den verratzten Kiez, die räudige titelgebende Kneipe und ihre sprücheklopfenden Bewohner, Honkas abgewohnte Bude, seine Sauferei und seine Gewaltakte. Nicht zu sehen ist aber, was Honka umtreibt, was er als junger DDR-Flüchtling selbst an Gewalt erfahren hat.

„Ich wollte keine Erklärung geben, warum er so ist, wie er ist“, sagt der Regisseur bei der Berlinale-Pressekonferenz, ohne das weiter zu begründen – und wer wollte bei einem nachbohren, der so sympathisch Charme versprüht? Auch selbst erraten müssen die Zuschauer, was im Roman sofort klar ist: dass Honkas Opfer weibliche Obdachlose sind, die für einen Korn und einen Schlafplatz alles tun würden. Der das Prekariat im Roman kontrastierende Hamburger Geldadel und seine Abgründe fehlen ebenso wie die launige Hafenrundfahrt mit Käptn Kuddel. Dafür ist ausgiebig zu sehen, wie Honka Frauen missbraucht, schlägt, umbringt und die Leichen zerteilt, um sie leichter unter der Dachschräge verstauen zu können.

Akin ist stolz auf die Freigabe ab 18

„Ich glaube, ich bin aufgrund von Horrorfilmen Regisseur geworden“, gesteht Akin. Aber in Deutschland mache man eben kein Genre-Kino, sondern Arthaus-Dramen. „Ich bin ein deutscher Filmemacher, ich bin hier aufgewachsen, darum habe ich bewusst dieses deutsche Thema aufgegriffen, Einflüsse wie ,Nosferatu‘ schleichen sich dann automatisch ein.“ Dass der „Handschuh“ nun – zu Recht – erst ab 18 freigegeben ist, macht ihn stolz: „Mein Sohn ist dreizehn, da findet man das cool und guckt das als Mutprobe. Das haben wir damals auch gemacht. Jetzt kann ich vor ihm ein bisschen angeben.“

„Soul Kitchen“ wird Akins Hamburg-Film bleiben. Der junge Jonas Dassler, mit kaputten Zähnen, Kassengestell und schielenden Augen auf Geisterbahn maskiert, könnte für den Darsteller-Bären in Frage kommen. Ganz kurz, im Vorüberschwenken, ist auch der Autor Heinz Strunk zu sehen. „Da ist ja nur ein halber Satz übriggeblieben“, schimpft er spielerisch vor der Presse, „das war ein sehr komplexer Monolog, den ich da gehalten habe!“ Der hätte interessant sein können.

Ein Junge verliert seinen Vater

Viel zu lang, aber gehaltvoll hat Agnieszka Holland in „Mr. Jones“ (141 Minuten!) die Geschichte des britischen Journalisten Gareth Jones verfilmt. Er reiste 1933 in die Ukraine und wurde Zeuge des dort wütenden Hungers, weil die sozialistische Planwirtschaft versagte. Er machte es öffentlich und wurde 1935 im Alter von 29 Jahren vom KGB liquidiert. Der stärkste Teil des Films ist Jones‘ erste Woche in Moskau, wo er Ada Brooks kennenlernt, die dem umstrittenen britischen Pulitzer-Preisträger und Stalinisten Walter Duranty zuarbeitet. Wunderbar, wie schnell die Querköpfe Jones und Brooks sich finden. Während Jones zurecht für sauberen, faktenbasierten Journalismus wirbt, ist Spielfilm eine fiktionale Angelegenheit – Holland hätte die beiden vor Jones’ Tod noch einmal zusammenbringen und einander mehr Lyrik vorlesen lassen können.

Epische, hochästhetisch komponierte Bildern hat der Norweger Hans Petter Moland in „Pferde stehlen“ zu bieten. Sonst ist er meist mit schwarzhumorigen Stoffen („Einer nach dem anderen“) bei der Berlinale, hier nun erzählt er die Geschichte eines Sommers, in dem ein 15-Jähriger über die Ferien in der Waldhütte seinen Vater verliert – an eine Nachbarsfrau, mit der er einst im Widerstand gegen die Deutschen Besatzer war. Starke Charaktere prallen da aufeinander in schicksalhaften Ereignissen, die über 90 Minuten hochspannend hätten werden können – doch eine Rahmenhandlung, in der Stellan Skarsgård als gealterte Hauptfigur sich erinnert, bremst den Film immer wieder aus und dehnt ihn auf 122 Minuten.

„Öndög“ ist die mongolische Bezeichnung für ein versteinertes Saurier-Ei. Ums Aussterben und neues Leben geht es da – und exakt dieser Diskussion werden sich auch der nichtamerikanische Independent-Film und Festivals wie die Berlinale stellen müssen.