In jedem Arbeitsumfelds steckt Poesie: Franz Rogowski und Sandra Hüller im Berlinale-Film „In den Gängen“ Foto: Festival/Verleih

Die Berlinale-Jury hat ein Problem: Die wichtigsten Favoriten im Wettbewerb kommen aus dem Gastgeberland. Am Freitag hat sich Thomas Stuber, Absolvent der Ludwigsburger Filmakademie, mit „In den Gängen“ empfohlen.

Stuttgart - Obwohl die meisten Menschen ein Drittel ihrer wöchentlichen Lebenszeit damit verbringen, ist die Arbeit im Vergleich zum Privatleben im Kino deutlich unterrepräsentiert. Denn Arbeit bedeutet immer auch Routine, die per se den dramatischen Sehnsüchten des Unterhaltungsbetriebs entgegenläuft. Aber manchmal muss man nur genau hinschauen, um im Alltäglichen das Besondere zu entdecken, und genau das ist Thomas Stuber hervorragend gelungen mit „In den Gängen“, dem vierten deutschen Beitrag im diesjährigen Berlinale-Wettbewerb.

Der Regisseur Stuber, ein Absolvent der Ludwigsburger Filmakademie, macht den Arbeitsplatz fast zum alleinigen Zentrum der Erzählung und verlässt kaum die neonbeleuchteten Räumlichkeiten eines Großmarktes. Zwischen den meterhohen Regalen, in unwirtlichen Kantinen und auf dem Fahrersitz eines Gabelstaplers findet der Film seine ganz eigene Poesie. Abgeschottet vom Tageslicht und dem Rest der Welt wird hier bis in den späten Abend gearbeitet. Aber Stuber inszeniert den an sich trostlosen Ort nicht als soziale Tristesse, sondern legt den Fokus auf das zwischenmenschliche Miteinander im Betrieb.

Besonders gelungen sind die sparsamen Dialoge

Franz Rogowski spielt den Neuling Christian, der von seinem Kollegen Brono (Peter Kurth, Ensemblemitglied am Stuttgarter Staatsschauspiel) eingearbeitet wird und schon bald zwischen den Regalen seinen Blick von Marion (Sandra Hüller) nicht lassen kann. Aus der einfachen Handlungsaufstellung entwickelt Stuber einen fein beobachteten Prozess der Annäherung der Figuren, die in ihrer Charakterisierung immer mehr an Tiefe gewinnen. Besonders gelungen sind die sparsamen Dialoge, die Gefühle und Sehnsüchte in einfache Wort von spröder Schönheit fassen. „In den Gängen“ beweist viel Mut zum Melancholischen und findet gleichzeitig den Zauber im Alltäglichen. Wenn die Gabel des Staplers von ganz oben langsam zischend herunterfährt, klingt das am Ende des Filmes wie das Rauschen des Meeres.

Die Jury um Tom Tykwer wird in diesem Jahr vor einem Problem stehen, das in dieser Form bei der Berlinale noch nicht vorgekommen ist: Die wichtigsten Favoriten des Wettbewerbs kommen aus dem Gastgeberland. Selten hatte das deutsche Kino einen derart guten Flow wie in diesem Festival-Jahrgang.

Selten hatte das deutsche Kino einen derart guten Lauf

Angefangen mit Christian Petzolds klug konzeptionierter Anna-Seghers-Adaption „Transit“, die durch eine unorthodoxe Modernisierung des historischen Stoffes überzeugt, gefolgt von Emily Atefs hinreißendem Romy Schneider-Film „3 Tage in Quiberon“ bis hin zu Stubers fabelhaften „Zwischen den Gängen“. Das wirft für die Bären-Vergabe echte Probleme auf.

So erscheint ein Silberner Bär für Marie Bäumers brillante Romy-Performance geradezu zwingend, aber eigentlich hätte auch Atef den Goldenen Bären für den Film verdient, weil er zu den wenigen zählt, die auf der ganzen Klaviatur cineastischen Ausdruckvermögens überzeugen konnten. Auch der deutsche Schauspieler Franz Rogowski, der seine wortkargen Rollen mit enormer emotionaler Präsenz gefüllt hat, steht für seine Auftritte in „Transit“ und „Zwischen den Gängen“ sicher in der engen Wahl. Zugleich hätten seine beiden Regisseure Petzold und Stuber ebenfalls eine Silberbären für ihre Arbeit verdient.

In die engere Wahl gehört auch der norwegische blick auf den Terror

Aber natürlich kann ein internationales Festival seine Preise nicht alle im eigenen Land vergeben, auch wenn der Blick über den nationalen Kinotellerand hinaus in diesem Festivaljahrgang nur wenige Favoriten, zu viel Mittelmaß und ein paar echte Nieten aufwies. In die engere Wahl gehört auf jeden Fall der norwegische Beitrag „Utøya 20. Juli“, der das Attentat im Sommer 2011 auf ein Jugendcamp allein aus der Sicht der Opfer reinszeniert – eine Perspektive, die angesichts weltweiter Terroranschläge viel zu selten eingenommen wird und auf dem Festival kontrovers diskutiert wurde. Auch hier hätten sowohl der Regisseur Erik Poppe für seine klares Konzept als auch die junge Hauptdarstellerin Andrea Berntzen eine Auszeichnung verdient.

Der russische Beitrag „Dovlatov“ von Alexey German, der ein atmosphärisch dichtes Porträt der frühen Breschnew-Ära aus der Perspektive verbotener Schriftsteller zeichnet, dürfte ebenfalls seinen Weg auf die Shortlist finden. Am letzten Festivaltag hat sich auch die polnische Regisseurin Małgorzata Szumowska mit ihrem Film „Twarz“ noch als aussichtsreiche Bärenkandidatin präsentiert.

Ganz nahe an der sozialen Realität der polnischen Provinz

Tief in die polnische Provinz reist der Film, wo in dem Ort Świebodzin nahe der deutschen Grenze die größte Jesusstatue der Welt mithilfe von Spendengeldern in Höhe von 1,5 Millionen Euro errichtet wurde. Der Film erzählt die Geschichte des lebenslustigen Bauernsohnes Jacek, der bei den Bauarbeiten tief ins hohle Innere der Statue stürzt. Dabei wird vor allem sein Gesicht verletzt, das nach umfangreichen Transplantionen nur auf entstellte Weise wieder verheilen kann. Mit dem anderen Gesicht kehrt er zurück ins Dorf zu seiner Familie und seiner Geliebten. Die Medien stürzen sich auf den Fall und der Klingelbeutel mit den Spenden für seine Rehabilitation füllt sich schnell. Aber bald stellt sich heraus, dass außer der Schwester weder die Familie noch die Dorfbewohner mit der plötzlichen Andersartigkeit des Vertrauten umgehen können.

Ganz nahe an der sozialen Realität der polnischen Provinz erzählt Szumowska ihre metaphorische Geschichte und hält dem eigenen, zerrissenen Land den Spiegel vor, ohne sich auf einfache politische Botschaften zu verlassen. Auf einem Festival, das sein politisches Selbstverständnis in den letzten Jahre rege kultiviert hat, fällt dieser Film sicherlich ins Beuteschema der Jury, die bei der heutige Preisvergabe angesichts der starken Präsenz heimischer Werke auch ihr diplomatisches Geschick unter Beweis stellen muss.