„Ich habe versucht, mich zu erhängen und bin von der Schule geflogen“: Mit diesem (gelogenen) Geständnis sichert sich Ethan (Benson Jack Anthony) in Neil Triffetts Film „Emo – The Musical“ einen Platz in der Band Worst Day Ever. Foto: Berlinale

Die Band Wolf Alice auf Tour, Elektropioniere bei der Arbeit. Und ein Emo-Musical gibt es auch noch obendrauf. Die Internationalen Filmfestspiele in Berlin erklären mit Musikfilmen das Leben.

Berlin - Der Stakkato-Beat dröhnt, die Gitarren ächzen, Ellie Rowsell kreischt, stottert, seufzt. Und irgendwo hinten in der im Stroboskopblitzlicht zuckenden Halle steht Estella. Für einen Moment verweilt die Wackelkamera auf ihrem Gesicht, findet das Leuchten in ihren Augen und offenbart: Hier und jetzt passiert sie wieder einmal– die Magie des Aufruhrs des Rock’n’Roll. So festgehalten in Michael Winterbottoms Tourfilm „On The Road“.

Als das jüngste unter den drei großen europäischen Filmfestivals gefällt sich die Berlinale in der Aufmüpfigen-Rolle. Cannes hat mehr Glamour, Venedig mehr Kunst, Berlin hat die Rebellion. Das zeigt sich nicht nur in der Vielzahl an politischen Filmen, die es dieses Jahr wieder ins Programm geschafft haben, sondern auch daran, wie gerne sich die Berlinale mit Rock’n’Roll-Posen inszeniert. Zum Beispiel vor neun Jahren als Martin-Scorseses Rolling-Stones-Film „Shine A Light“ das Festival eröffnete.

„Musik existiert nicht, es sind nur geordnete Geräusche“

Immer wieder setzt die Berlinale popmusikalische Schwerpunkte – allerdings oft in affirmativem oder zumindest wertkonservativem Gestus, indem sie Klassiker wie die Stones, Harry Belafonte, Nick Cave oder Bap feiert. Diesmal etwa den Gypsy-Jazz-Pionier Django Reinhardt oder die Elektropioniere Tangerine Dream. Margarete Kreuzers Dokumentation „Revolution Of Sound“ lohnt sich aber allein schon wegen des wunderbaren Satzes, mit dem der 2015 verstorbene Tangerine-Dream-Chef Edgar Froese zitiert wird: „Musik existiert nicht, es sind nur geordnete Geräusche.“

Auf der Berlinale finden sich aber auch jedes Jahr Filme, die zeigen, dass es möglich ist, einen musikalischen Diskurs abseits solcher Heldenporträts in Bilder zu übersetzen und zu erweitern. Da gibt es auf der einen Seite Experimente wie Heinz Emigholz’ strukturalistische Studie „2+2=22 [The Alphabet]“, die eine alphabetisch organisierte Parallelmontage ist, die zwischen Straßenzügen in Tiflis, der Düsseldorfer Band Kreidler im Tonstudio und Notizbuchcollagen hin und her springt; oder „Somniloquies“ von Verna Pravel und Lucien Castaing-Taylor, die verschwommen-bizarre Traumlandschaften entwerfen, um sich dem Songwriter Dion McGregor zu nähern, der in den 60ern vor allem dadurch auffiel, dass er seine Geschichten im Schlaf erzählte.

Michael Winterbottom erzählt von Sex, Rock’n’Roll und Tourbusklos

Auf der anderen Seite gibt es Filme, wie die australische Musikkomödie „Emo – The Musical“, die wunderbar leichtgewichtig den Absolutheitsanspruch der Popideologien infrage stellt. Neil Triffett erzählt in diesem kunterbunten Coming-of-Age-Spaß von Ethan, der seine Depressionen gerne in der Emo-Rock-Schulband Worst Day Ever zur Schau stellt, sich dann aber ausgerechnet in die dauerfröhliche Trinity verknallt, die in einer christlichen Jugendgruppe missionarische Liedchen trällert.

Und nicht zu vergessen Michael Winterbottom, der bereits mehrfach – auch auf der Berlinale – bewiesen hat, wie gut er mit musikalischen Themen umgehen kann. In seinem Spielfilm „I Want You“ (1998) verwandelte er die hochdramatische Struktur des gleichnamigen Songs von Elvis Costello in eine betörend-verstörende Filmgeschichte. Und in „9 Songs“ (der 2004 dann doch in Cannes Premiere feierte) begleitete er zwei Liebende von einer Rockshow zur nächsten, stellte den Konzertausschnitten explizite Sexszenen gegenüber, sorgte dafür, dass sich beide Erzählebenen gegenseitig knisternd aufluden.

„Wenn es funktioniert, entsteht ein göttlicher Moment“

Winterbottoms „On The Road“ knüpft gewissermaßen an „9 Songs“ an. Der Film läuft zwar in der Berlinale-Jugendfilmreihe „Generation“ und verzichtet diesmal auf allzu explizite Szenen, lässt aber wieder Dokumentation und Erzählkino aufeinandertreffen. Er folgt der Band Wolf Alice bei einer Tournee durch das Vereinigte Königreich, macht Estella, die unterwegs eine Art Mädchen für alles ist, zu seiner zentralen Protagonistin. Es gibt eine Liebesgeschichte, die Andeutung eines Familiendramas, vor allem aber eine unerhörte Tristesse, die sich zwischen den Konzertszenen auftut. Winterbottom erzählt den Touralltag zwar beiläufig, distanziert, er lässt sich aber auch immer wieder von der Musik fortreißen. Für Michael Winterbottom ist Rock’n’Roll eine Überwältigungskunst, eine nur emotional fassbare Darstellungsform.

Das verbindet seinen Film mit Romuald Karmakars Doku „Denk ich an Deutschland in der Nacht“, die einige Protagonisten der elektronischen Musik porträtiert. In langen Einstellungen, statischen Bildern, bei denen Ton und Bild mitunter getrennte Wege gehen, lässt Karmakar seine Gesprächspartner Musik als das große welterklärende, sinnstiftende Moment beschreiben. Die DJane Sonja Moonear aus Genf darf dann sagen: „Wenn es funktioniert, entsteht ein göttlicher Moment.“

„Wenn man darüber nachdenkt, ist es total sinnlos – aber es macht Spaß“

Der Erweckungsphilosophie in Karmakars Film stellt die Doku „Könige der Welt“ gewissermaßen den Pragmatismus in Form eines Satzes des Sängers Maze Exler gegenüber: „Wenn man darüber nachdenkt, ist es total sinnlos – aber es macht Spaß.“ Exler war mit seiner Band Union Youth zu Nu-Metal-Hochzeiten mal fast weltberühmt, vor 15 Jahren ergatterte die Combo aus einem niedersächsischen Kaff einen Plattenvertrag bei einem großen US-Label. Doch der Absturz folgte schnell. Der Film von Christian von Brockhausen und Timo Großpietsch begleitet die Bandmitglieder von einst bei einem Comebackversuch (unter dem Namen Pictures) und führt die Untauglichkeit des Lebensentwurfs Rockstar vor, der im Falle Maze Exler in einer Entzugsklinik endet – zwischen traurigen Liegestühlen und verlassenen Minigolfplätzen.

Damit ist „Könige der Welt“ gar nicht weit von „On The Road“ entfernt. Denn auch dieser führt vor, wie flüchtig große Rock’n’Roll-Momente sind, selbst wenn eine Band gerade noch auf einer Erfolgswelle schwimmt. Winterbottom macht in unzähligen Varianten klar, dass die neunzig Minuten auf der Bühne, das Kreischen, Blitzen, Krachen und Staunen, nur ein kleiner Teil eines eigentlich recht öden, einsam-trostlosen Arbeitsalltags voller Leerlauf und Langeweile sind.