Regelmäßiger Berlinale-Gast und nun als Jurorin mitverantwortlich für die Verteilung der Bären: Juliette Binoche Foto: AFP

Dieter Kosslick gelingt zum Abschied eine Berlinale-Eröffnung nach Maß – mit einem Drama über die Großzügigkeit derer, die selbst wenig haben, und einer starken Jury-Präsidentin Juliette Binoche.

Berlin - Den richtigen Eröffnungsfilm zu finden, ist nicht einfach – Ton und Inhalt müssen stimmen, der Rote Teppich prominent bestückt sein. All das hat „The Kindness of Strangers“ („Die Güte von Fremden“) am Donnerstag erfüllt. Der Film der Dänin Lone Scherfig erzählt von einer jungen Mutter, die mit zwei Söhnen vor dem prügelnden Vater nach New York City flieht. Dort kommt sie nur deswegen nicht unter die Räder, weil wildfremde Menschen sich ihrer annehmen – ein hell strahlender Gegenentwurf zur spalterischen Angstmacherei der Populisten der Gegenwart: Die Barmherzigkeit ist größer als der Hass. Auch das Berlinale-Motto „Das Private ist politisch“ spiegelt sich hier.

„Viele Normalbürger nehmen einiges auf sich, um anderen zu helfen“sagt Lone Scherfig vor der Presse. „Das beeindruckt mich, deshalb wollte ich einen Film darüber machen.“ Sie muss die Gewalt nicht zeigen, kurze Erzählungen der Opfer und die Angst in ihren Gesichtern reichen völlig. Zoe Kazan („The Ballad of Buster Scruggs“) spielt die Mutter Clara, die im frostigen New York extremste Gefühlslagen durchläuft. Andrea Riseborough („Birdman“) ist als Krankenschwester mit Helferleinsyndrom zu sehen, die nach Dienstschluss in der Suppenküche arbeitet und noch eine Selbsthilfegruppe leitet. Sie muss den amtierenden US-Präsidenten nicht beim Namen nennen, um verstanden zu werden: „Es gibt so viel Ehrenwertes in dieser Welt“, sagt sie. „Wir haben diesem New Yorker Unternehmer zu viel Aufmerksamkeit geschenkt und dadurch ein Monster erschaffen. Wir sollten uns auf die positiven Dinge konzentrieren.“

„House of the rising Sun“ auf Balalaikas

So sieht das auch der Brite Bill Nighy („Love actually“) , der für komödiantische Auflockerung sorgt als Besitzer eines alten New Yorker Hauses mit russischem Restaurant. Mit kleinsten Regungen und britisch-ironischen Einwürfen bringt er das Publikum zum Lachen. „Jeder Film, der das Verbindende betont und nicht das Trennende, ist derzeit nicht nur wünschenswert, sondern essenziell“, sagt er. „Menschen kommen miteinander aus, wenn sie nicht manipuliert und auseinandergetrieben werden.“

Wieso aber ausgerechnet ein russisches Lokal, in dem eine Band „House of the rising Sun“ in russischer Sprache auf Balalaikas spielt? „Das ist natürlich eine Kitschversion von Russland, mit dem ich schon als Kind zu tun hatte, weil Teile meiner Familie Kommunisten sind und die Sowjetunion geliebt haben“, sagt Scherfig. „Im Film gehört das zur Internationalität, die mir wichtig war, deshalb habe ich auch die Welthauptstadt New York als Schauplatz gewählt.“

Binoche hat meistens die Filmkunst vorgezogen

Frauenrechte und Gleichberechtigung kommen hier nicht zur Sprache. Dafür gab es eine andere Veranstaltung am Vormittag: Die Vorstellung der Internationalen Jury, die die Bären verteilt. Den Vorsitz hat die französische Schauspielerin Juliette Binoche vor, die für den „englischen Patienten“ (1996) nicht nur einen Oscar bekam, sondern auch den Silbernen Bären für die beste Darstellerin. Das verbindet, sie kommt regelmäßig nach Berlin und passt auch hierher, denn sie hat meistens die Kunst dem Mainstream vorgezogen.

„Ich bin sehr glücklich, dass sieben Filme von Frauen im Wettbewerb laufen“, sagt die Binoche gleich zum Auftakt. „Und dass Dieter Kosslick sagt, sie seien nicht ausgewählt worden, weil sie von Frauen sind, sondern weil sie gut sind. Da hat sich etwas verändert in den vergangenen zehn Jahren, die Herzen und Hirne öffnen sich.“ Das Private hält sie sehr wohl für politisch: „Was menschlich ist, ist auch politisch“, glaubt sie. „Die Welt ist sehr egoistisch im Moment, viele reiche Länder verschließen ihre Grenzen und das Klima verändert sich. Dazu muss sich jeder und jede einzelne von uns verhalten, wir haben eine Verantwortung für künftige Generationen – und es erstaunt mich, dass manche Regierungen nicht so bei der Sache sind, wie sie es sein sollten.“

Das Netflix-Thema wird das Festival begleiten

Wie sie ihre Rollen auswählt? „Das ist für mich keine Kopfsache“, sagt sie. „Ich muss den Wunsch haben, den Film zu erleben, weil mein Bauch es mir sagt. Das ist immer ein Sprung ins Ungewisse, aber ich liebe das Abenteuer, darum geht es mir im Leben.“ Eine passende Anekdote dazu hat Juliette Binoche auch parat: „Als Jane Campion ,Das Piano‘ gemacht hat, hat sie mich eingeladen und wir haben über die Hauptrolle gesprochen. Das hat nicht geklappt, Holly Hunter bekam dann den Zuschlag, und als ich sie im Film gesehen habe, war mir klar, dass ich das nicht hätte machen können, dass ihr dieser Film gehört.”

Auch die deutsche Schauspielerin Sandra Hüller sitzt in der Jury, genau wie Rajendra Roy, leitender Filmkurator am New Yorker Museum of modern Art (MoMa). Der macht ihr ein dickes Kompliment, als die Sprache auf den deutschen Film kommt: „Der zeitgenössische Film ist nicht denkbar ohne deutsche Filme wie ,Toni Erdmann‘“, sagt Roy, der ein Buch über die Berliner Schule geschrieben hat. Die neorealistische Bewegung aus den 1990er Jahren habe dem „Avantgarde-Film wichtige Impulse gegeben“, findet er. Bei dieser Berlinale läuft im Wettbewerb „Ich war zuhause, aber“, ein Film von Angela Schanelec, die die Berliner Schule einst mitbegründet hat.

Zur Netflix-Frage und dem drohenden Untergang des Kinos, einem der großen Filmthemen der Gegenwart, äußert sich der chilenische Regisseur und regelmäßige Berlinale-Gast Sebastián Lelio („Eine fantastische Frau“): „Das Kino ist schon oft für tot erklärt worden, aber ich sehe das nicht apokalyptisch: Ein starker Film mit kultureller Relevanz ist nichts ohne das Kinoerlebnis, die kollektive Erfahrung.“ Dennoch, gibt er zu, war es ein Netflix-Film, der ihm jüngst ein besonderes Erlebnis beschert hat: Alfonso Cuaróns Mexiko-Drama „Roma“. Dieser Widerspruch wird das Festival weiter begleiten – der gelungenen Eröffnung zum Trotz.