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Berlin zieht nicht nur Menschen an. Auch Tiere, die es im Wald deutlich besser hätten, kommen in die Stadt. Zunehmend mehr Forscher gehen der Frage nach, warum Wildschweine und Füchse ein Leben zwischen Beton und Asphalt dem Wald vorziehen.

Berlin - Auf den ersten Blick ist rein gar nichts zu sehen. Derk Ehlert zeigt auf den Zwischenraum unter einem Bürocontainer, nur durch die Spree vom Bundeskanzleramt getrennt. Darunter ziehe eine Fähe – eine Füchsin – gerade ihre Jungen auf. „Das da ist ihr Supermarkt“, sagt Berlins Wildtierexperte mit Blick auf ein halbes Dutzend eingezäunter Mülltonnen. An diesem Tag sind die Fähe und ihre Jungen wohl scheu oder schlafen noch, ebenso wie die benachbarten Kaninchen. Normalerweise überquere die Füchsin auch mal die Brücke Richtung Angela Merkels Vorgarten, um ihr Revier zu markieren.

Es braucht eine Menge Spürsinn, gute Augen, Zeit, Wissen und Glück, um Berlins Wildtieren gezielt auf die Spur zu kommen. Waschbären und Wildschweine, Wanderfalken, Füchse, Biber und noch mehr Arten haben sich an das Leben in der Großstadt angepasst. Der Artenreichtum an Tieren und Pflanzen wird auf ganze 20 000 geschätzt.

Mal mehr, mal weniger konfliktfrei läuft das Zusammenleben. Derk Ehlert kümmerte sich jahrelang auch um Bürgerprobleme mit Wildtieren und ist als Ansprechpartner bekannt. Einem Tipp folgend führt der Weg Richtung Flughafen Tegel im Berliner Norden. Das monotone Dröhnen startender und landender Flugzeuge schallt herüber in das Wäldchen direkt an einem Wohngebiet. Ausgerechnet hier soll es derzeit Wildschweine geben.

Teenie-Mädchen treffen Frischlinge

Aufgewühltes Erdreich, Hufspuren und einen typischen Ruheplatz – eine Kuhle unter Brombeerranken – hat Ehlert beim Umherstreifen schon entdeckt. Die meisten Spaziergänger würden nichts davon wahrnehmen. Plötzlich hallt hysterisches Kreischen herüber, ein Hund schlägt an. Derk Ehlert macht nun große Schritte. Die aufgeregten Schreie von vier Teenie-Mädchen trügen nicht: Eine Rotte Wildschweine mit etwa 15 Frischlingen ist unterwegs in Richtung der Wohnhäuser.

Die zwei Wochen alten Schweine reiben sich an Bäumen, die Bachen nähern sich den Beobachtern – „checken die Lage“, wie Ehlert sagt. Während die Mädchen rasch Reißaus nehmen, wirkt die Wildschweinrotte dagegen äußerst entspannt. Nur der Keiler sieht etwas mitgenommen aus. Mitgenommen ist auch das Wäldchen, das im April noch ziemlich kahl ist. Nach dem ersten schönen Wochenende ist es mit Müll übersät – nicht unbedingt Bilderbuchnatur.

Wildtiere finden in Berlin alles, was sie brauchen: Überdurchschnittlich viel Grün im Vergleich zu anderen Großstädten, Unterschlupf und einen reich gedeckten Tisch aus Abfällen. In milden Wintern kommen die Jungen gut durch. Todfeinde dagegen fehlen. Wer anderswo in Deutschland in Wald und Flur ein Tier sieht, ist gewohnt, dass es sofort abhaut. Anders in Berlin: Füchse starren gerne mal zurück und wie in Tegel lassen die Wildschweine Menschen nah an sich heran.

Füttern verboten – geahndet wird aber selten

„Riechen Sie das, diesen Maggi-Geruch? Das sind die Wildschweine. Herrlich.“ Ehlert steht im Wald und freut sich. „Füchse riechen nach muffiger Kleidung.“ Die Wildschweine erschnüffeln indes Grillabfälle. Aus einer Mülltonne zieht eine Bache geschickt eine mit roter Marinade besudelte Plastikverpackung heraus. „Diese Soße lieben die“, sagt Ehlert. Er ist bei aller Begeisterung ein bisschen sauer. Der Hinweis zu den Wildschweinen kam von einer beunruhigten Anwohnerin. Wenn er den großen Haufen Gartenschnitt sieht, abgeladen am Wegesrand, wundert ihn das nicht: Es ist beliebtes Wildschweinfutter.

Als ein Radler mit zwei prall gefüllten Satteltaschen stehenbleibt, umringen ihn die Bachen sofort. Der Mann sieht sich um, fährt nach einer Weile weiter. Eines der Wildschweine läuft brav hinterher. „Die sind eindeutig auf Menschen konditioniert.“ Derk Ehlert schüttelt den Kopf. „Der hat nur nicht gefüttert, weil wir da waren.“ Der Experte macht den Test, hebt eine Plastiktüte vom Boden auf und raschelt damit. Die Schweine kommen angerannt. Offiziell kostet das Füttern von Wildtieren 5000 Euro Strafe. Wie oft sie verhängt wird? Ehlert verweist auf die schwere Beweisführung und winkt ab.

Probleme mit Wildtieren in der Stadt sind meist hausgemacht, da sind sich Experten einig. Obwohl das Leben im Grünen beliebt ist, bestimme bei vielen Menschen eine Grundangst die Haltung, bilanziert Katrin Koch, die Berliner am Wildtiertelefon des Nabu berät. Von den großen und kleinen Problemchen der Stadtbewohner mit der Natur kann sie ein Lied singen: Stockenten brüten auf dem Balkon, eine Erdkröte fällt in den Kellerschacht, ein Waschbär macht sich wiederholt über Bellos Futternapf her.

Dass die wilden Tiere Berlin flächig in Beschlag genommen haben, bekommt Koch im Sommer besonders zu spüren. Ihr Apparat klingelt dann bis zu 30 Mal pro Tag. Bei Begegnungen mit einer Bache gehe das Kopfkino los: Die greift an, ich ende in einer Blutlache, wo ist der nächste Baum? Selbst ein Fuchs auf der Terrasse könne zu Hysterie führen, sagt Koch: Warum rennt der nicht weg, wenn er mich sieht? Beißt der mich, meine Kinder oder meinen kleinen Terrier? Den Anrufern ist es bierernst. Koch versucht zu beruhigen, via Telefon.

Einige Wildschweine tragen GPS-Sender

Hauptamtliche Wildtierexperten, die vor Ort vorbeischauen könnten, hält sie für dringend nötig. Doch Ehlerts alte Stelle als Wildtierbeauftragter ist gestrichen worden, heute kümmert er sich noch im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit in der Berliner Umweltverwaltung um Wildtiere. „Die Probleme werden ja nicht weniger“, meint Koch. Alte Damen, die niemanden mehr haben, aber einen Fuchsbau im Garten, könne man nicht damit alleine lassen. Sie befürchtet, dass Menschen mit derartigen Problemen am Ende illegale Fallen aufstellen.

Die Tierpathologin Gudrun Wibbelt vom Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) weiß von absichtlich getöteten Tieren. Im Osten Berlins, zwischen Plattenbauten und Tierpark, bekommt sie Kadaver auf ihren Tisch, um Todesursachen zu klären. Verkehrsunfälle und Krankheiten seien zwar am häufigsten. Aber auch Menschen macht sie ab und an als Übeltäter aus. „Ein Biberkörper wurde im Wasser treibend gefunden, mit einer Drahtschlinge um den Schwanz“, erzählt sie. Fazit der Obduktion: Das Tier wurde mit Karotten und Äpfeln angefüttert, dann mit einer Art Keule auf Schädel und Rücken geschlagen. In einem anderen Fall vermutet sie eine Vergiftung.

Aber warum genau zieht es Wildtiere eigentlich in die Stadt? Diese Frage treibt am IZW mehrere junge Wissenschaftlerinnen um. Sie sitzen gemeinsam in einem Büro und erforschen Stadtwildschweine, -füchse und -waschbären.

Eines der zentralen Instrumente, um Routen und Bewegungsmuster der Tiere zu erkennen, sind GPS-Sender. Die werden Tieren umgebunden, die in eine ihrer Fallen tappen. Das Einfangen ist sehr, sehr aufwendig, wie die Forscherinnen berichten. Der Köder und der Auslösemechanismus müssen extrem ausgefeilt sein, damit keine Katzen oder Nebelkrähen gefangen werden.

Was wollen die Tiere in der Stadt?

Milena Stillfried, deren Projekt zu Wildschweinen am längsten von den dreien läuft, hat in zäher Arbeit 14 Wildschweine besendert. Nun wertet sie die Daten aus. Auch die Gene der Schweine sind gefragt. Gibt es dauerhaft getrennte Gruppen, womöglich bedingt durch den Verlauf einer Autobahn oder noch durch den einstigen Verlauf der Mauer? Oder findet ein Austausch statt? Analysen von 300 Wildschweinmägen sollen außerdem Aufschluss über die Nahrung geben.

Bei ihrer Arbeit über den Fuchs, in Kooperation mit dem Fernsehsender RBB, will Sophia Kimmig die Berliner zu Bürgerwissenschaftlern machen: Wohl ab Mai können sie zur weiteren Forschung beitragen, indem sie sich auf die Spuren der besenderten Stadtfüchse begeben und mögliche Anziehungspunkte wie Futterquellen vor Ort suchen. Einen Fuchs zum Beispiel, so erkannte sie in den GPS-Daten, zog es immer wieder nachts auf den Parkplatz eines schwedischen Möbelhauses, wohl auf der Suche nach Hotdogs. Weitere derartige Einsichten sind gefragt. Kimmig könnte diese Arbeit allein kaum leisten, obwohl sie ohnehin mindestens drei Tage pro Woche im Feld unterwegs ist.

Auch einem Gesundheitscheck werden die gefangenen Füchse unterzogen: Ihnen wird Blut entnommen, das Fell und die Zähne unter die Lupe genommen. Die Forscher untersuchen zudem Totfunde – meist überfahrene Füchse – systematisch auf Parasiten wie den Fuchsbandwurm. „Bei allem braucht man überhaupt keine Panik haben“, betont Kimmig. Der Fuchsbandwurm sei sehr selten.

Bei der Fuchsforschung wie auch bei einem neuen Projekt über Waschbären nutzen die IZW-Mitarbeiterinnen zudem Sensoren, die den Tieren gemeinsam mit den GPS-Sendern umgebunden werden und messen, wie schnell es sich bewegt. „Der Plan ist, Muster in den Daten zu finden, um daraus Rückschlüsse auf das Verhalten zu ziehen“, sagt Carolin Weh, die sich Waschbären vorgenommen hat. Es ließe sich zum Beispiel erkennen, ob ein Tier zu einem bestimmten Zeitpunkt frisst, schläft oder umherläuft. So umfassend könnte kein Forscher nachtaktive Tiere beobachten, und womöglich würde menschliche Anwesenheit das Verhalten sogar beeinflussen.

Diese Informationen könnten einigen Aufschluss bringen über rätselhaftes Tierverhalten: Was lockte zum Beispiel einen Biber in den berühmt-berüchtigten Görlitzer Park nach Kreuzberg, zwischen Dealer, Touristen und Spirituelle? Und was wollte der Fuchs, der kürzlich vor der Kamera eines Journalisten die Treppe von Schloss Bellevue emporstieg, durch die geöffnete Tür blickte und dann wieder kehrtmachte? Manches kann man sich bisher eben nicht erklären. Und unternehmen kann man gar nichts dagegen, wie Katrin Koch vom Nabu sagt. Sie meint lapidar: „Dit is eben Hauptstadt, dit is Berlin.“