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Der Schlag trifft die Genossen lautlos. Sie müssen die Wahrheit nicht anhören, weil just in jenem Moment der Ton wegbleibt, als die 18-Uhr-Prognosen über die Bildschirme des Willy-Brandt-Hauses flimmern.

Berlin - Der Schlag trifft die Genossen lautlos. Sie müssen die Wahrheit nicht anhören, weil just in jenem Moment der Ton wegbleibt, als die 18-Uhr-Prognosen über die Bildschirme des Willy-Brandt-Hauses flimmern: knapp 23 Prozent. Das historische Tief.

Die Ergebnisse, die Sitzverteilung und weitere Infos in unserem Wahl-Special

Die Katastrophe - und doch tritt Frank-Walter Steinmeier keine 35 Minuten später ans Podium und strahlt übers ganze Gesicht. So wie er es gelernt hat im Wahlkampf, seinem Wahlkampf, in dem er sich vom Bürokraten zum Kanzler-Herausforderer wandelte, der sich zur Not ins Ziel lacht. Trotz der miserablen Umfragewerte und schlechten Wahlergebnisse, die der SPD seither wie Pech am Stiefel kleben. Treibt den 53-jährigen Vizekanzler also schiere Erleichterung, die Tortur hinter sich gebracht zu haben, die ihn seit einem Jahr und zwei Wochen in Atem hielt, in denen er auch noch als Spitzenkandidat im Rennen lag?

Vorfreude wird ihn kaum lenken. Steinmeier nennt die Dinge beim Namen: "Nach diesem Ergebnis werden wir nicht ohne weiteres zur Tagesordnung übergehen." Klar sei, dass er die neue Fraktion bitten werde, ihn zum Chef, zum Oppositionsführer zu wählen. "Denn ich werde nicht aus der Verantwortung fliehen." Da jubeln seine Zughörer, als ob er gerade den großen Sieg verkündet. Gespenstisch.

Nicht ohne weiteres dagegen wird Franz Müntefering Parteichef bleiben. Schließlich ist er, der hier links von Steinmeier steht und nur selten in den verzweifelt dargebrachten Applaus der frustrierten Genossen einstimmt, der Verantwortliche für den verlorenen Kampf. Den meisten Genossen ist bewusst, dass seine Zeit abläuft - dass die deutlich nach links gerutschte neue Bundestagsfraktion darauf bestehen wird, Müntefering abzulösen, und nur dann Steinmeier als neuen Frontmann akzeptiert. Die Strategen gehen davon aus, dass Steinmeier sich als neuer starker Mann der SPD auf dem Parteitag im November zusätzlich um das Amt des Parteivorsitzenden bewerben wird.

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Müntefering lässt alles offen. Der Mann, für den Opposition nach eigenen Worten Mist ist, tritt nicht zurück, obwohl das einige am Wahlabend erwartet hatten. Stattdessen sagt der 69-Jährige: "Ich danke Frank-Walter, dass er kandidiert hat." "Die Sozialdemokraten werden Opposition sein und sich wieder herankämpfen." "Wir stellen uns neu auf." Schließlich die denkwürdig letzten Worte, die rechte Hand zur Faust geballt: "Lasst uns beisammenbleiben. Wir sehen uns bald wieder in der Politik."

Die SPD stürzt tief, aber Steinmeier strahlt

Zuversicht und Selbstgewissheit klingen anders. Steht hier einer, dessen letzter Dienst an seiner Partei sein wird, die Verantwortung für das Wahldesaster in vollem Umfang zu übernehmen? Der Steinmeier gewissermaßen entlastet und auf dem Parteitag auf eine Wiederwahl verzichtet mit der Botschaft: Ich habe es vermasselt, nun macht es neu und besser? Nein, nicht an diesem Wahlsonntagabend. Direkt auf seine erneute Kandidatur angesprochen, beteuert der Vorsitzende in bestem Münte-Stakkato: "Das habe ich so gesagt zum Parteitag. Und alles, was ich dazu gesagt habe, gilt auch."

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Einige Genossen wollen in den vergangenen Tagen beobachtet haben, dass zwischen Steinmeier und Müntefering Funkstille geherrscht habe. Der Chef habe dem Kandidaten den ein oder anderen Alleingang nicht verziehen, sagen sie. Und er habe es als Misstrauensvotum empfunden, dass Steinmeier mit einer eigenen Berater-Entourage ins Brandt-Haus eingezogen sei. Plötzlich war der Wahlkämpfer Müntefering nur noch Herr aller Kampagnen, aber nicht mehr Manager des Spitzenkandidaten.

Am Sonntag applaudiert Müntefering nur an zwei Stellen, als Steinmeier spricht: als der ankündigt, nicht aus der Verantwortung zu fliehen, und später von der "historischen Mission der SPD" spricht, die soziale Balance herzustellen.

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Klaus Wowereit mag diesem Schauspiel kaum mehr folgen. Berlins Regierender Bürgermeister ist herbeigeeilt und verlangt, die SPD müsse sich erneuern. Opposition als Reha nach elf Jahren des Regierens, Mittragens und Nicht-Aufarbeitens der Reformpolitik, die als Agenda 2010 die SPD spaltete. Erneuern und verjüngen sind Wowereits Schlagworte, und er bringt sich damit in Stellung - als Kanzler-Anwärter der Parteilinken für ein rot-rot-grünes Bündnis. Doch Bremens früherer Bürgermeister Henning Scherf fängt ihn ein: "Wir müssen das, was übrig geblieben ist, sammeln und sortieren und dann einen neuen Anfang machen."