Unsichtbare Mauern des Erfolgs: Der Sonnenaufgang färbt den Himmel über Spree und Oberbaumbrücke in Berlin in ein warmes Licht. Das Hochhaus der Mercedes-Benz Vertriebszentrale und der Wohnturm an der East-Side-Gallery sowie der Allianz-Tower (v.l.) bilden die neue Hochhaus-Achse entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze. Foto: dpa/Paul Zinken

Die Rivalität zwischen Stuttgart und Berlin beschränkt sich nur auf Wirtschaftszahlen und Ausgehmöglichkeiten. Es geht auch und vor allem um die Frage, wo man wohnt und ob man es sich leisten kann. Eine Glosse über unsichtbare Mauern und fehlendes Stuttgarter Selbstbewusstsein.

Stuttgart - Viele Stuttgarter leiden unter dem rätselhaften Berlin-Syndrom. Je nach Ausprägung der Symptomatik können Patienten verhaltensauffällig wirken und sind zu lokalpatriotischen Aktivitäten wie Hocketse-Teilnahmen kaum mehr fähig. Sie verlieren ihren Appetit auf Maultaschen. Häufig versagen sie als sparsame Schwaben, verprassen plötzlich sinnlos viel Geld für kompostierbare Anoraks, australische Handseifen mit Peeling-Effekten und Superfood, von dem man Blähungen wie das Klärwerk in Mühlhausen bekommt. Sie lassen sich Hipster-Schnurrbärte wachsen, fahren auf Vintage-Stahlrennrädern durch den Westen und setzen ihren Fahrradhelm beim Betreten des Biosupermarkts ab (was korrekte Schwaben nie tun würden).

 

Jungbrunnen Berlin

In schweren Fällen sollten Angehörige auf Kurzreisen in die Hauptstadt pochen, was aber auch eine kostspielige Therapie ist, die nicht von den Krankenkassen übernommen wird. Ein guter, recht wohlhabender Bekannter sagte einmal: „Ich weiß auch nicht, warum. Aber wenn ich in Berlin bin, fühle ich mich sofort zehn Jahre jünger.“ Doch wie bei jeder Selbstwahrnehmungsstörung ist der Rückfall umso schlimmer. Spätestens beim Landeanflug auf Echterdingen fühlt man sich dann 20 Jahre älter, die Lachfalten verwandeln sich in Bombentrichter.

Stuttgart als Schwiegersohntyp

Also: Berlin als Jungbrunnen? Schwierig. Kommt darauf an, wo man seine Unterkunft hat, in welchen Stadtteilen man unterwegs ist und ob man seine rosarote Touristenbrille mal absetzt. Alljährlich erklärt einem eine Vergleichsstudie zur Lebensqualität in den größten deutschen Städten, dass Berlin immer noch arm, dafür aber sexy sei. Kurzum: Stuttgart als Mann wäre der perfekte Schwiegersohntyp. Die Affäre hat man mit anderen.

Ausgehkultur spricht für Berlin

Die sogenannte Ausgehkultur ist freilich ein schlagendes Argument – gegen Stuttgart. Wer reichlich Zeit zum Frühstücken hat und gern mal sein Schulenglisch in der Lektion Speis und Trank auffrischen möchte, findet allein in den Stadtteilen Mitte und Prenzlauer Berg dutzendweise Cafés, die so ungefähr jeden erdenklichen Foodtrend offerieren. Oft sind es eitle Engländer oder Amerikaner, die einem den Milchkaffee von glücklich gerösteten Kaffeebohnen servieren.

Uff’m Wedding

Wenn man aber danach einfach mal losläuft, dann kann man sich schon wundern. Auf der Brunnenstraße in dem schicken Mitte losspazierend landet man irgendwann im Wedding, fast unmerklich die unsichtbare historische Zonengrenze überschreitend. In der breiten Brunnenstraße finden sich auf wenige hundert Metern mehr als ein halbes Dutzend Wettbüros. „Uff’m Wedding“ sieht es aus wie mancherorts im Ruhrgebiet, die Läden changieren zwischen Leerstand und Rummelgeschäft. Statt Avocadopampe auf glutenfreien Brotscheiben gibt es in den Kneipen noch das Herrengedeck. In den Seitenstraßen warten junge Kerle auf bessere Zeiten, ihr wummernder Edelfuhrpark erinnert an eine Szene aus einer reißerischen Fernsehdoku über Clan-Kriminalität. Nur zwei Steinwürfe weiter, jenseits des Mauerparks, liegt der Stadtteil, der ein Sehnsuchtsort für Bullerbü-Städter der ganzen Republik geworden ist, den man sich allerdings leisten können muss. Ein Klingelschild eines kürzlich sanierten Altbaus mit Gartengebäude und Seitenflügel schmückt sich mit 44 Namen, darunter zwei serbokroatisch klingende und ein Doktor aus Georgien. Alle anderen Bewohner heißen Meier und Kröger. Auf der anderen Seite des Mauerparks, im früheren Westberlin, ist es genau umgekehrt. Auf den Schildern finden sich vor allem türkische und arabische Nachnamen.

Rezeptfreie Glosse

Noch heute, dreißig Jahre nach dem Mauerfall, ziehen sich unsichtbare Wände durch das arme sexy Berlin. Vielleicht hilft diese rezeptfreie Glosse bei plötzlich auftretenden Schüben dieses rätselhaften Berlin-Syndroms.