Tristesse mitten in Berlin im April 1984. Der Mauer gewannen auf der Westseite allein Graffitisprayer etwas ab . . . Foto: AFP/Joel Robine

Vor 30 Jahren fiel die Berliner Mauer, ein Jahr später war Deutschland wiedervereinigt. Ihren Geist aus Kreativität und Improvisation, wilder Lebenslust, aus Aggression und Rotzigkeit hat sich die größte deutsche Stadt erhalten.

Berlin - Berliner Herbstmorgen, Alexanderplatz, Werktag. Temperaturen knapp über Handschuh, Himmel hängt runter bis fast auf den Boden, jedenfalls frisst er mal wieder die Kugel des Fernsehturms. Da rauscht der 100er heran, schulbusartig, ganz leer, wie immer, weil Startpunkt der Linie. Bester Moment des Morgens. Denn jetzt und hier kann man auch als ganz normaler Berliner auf dem Weg zur Arbeit kurz eintauchen: in eine dicke, fette, leicht aufgekratzte Wolke der Erwartung und Vorfreude, in ein vielsprachiges Kuddelmuddel, ein Durcheinander aus Menschen mit Stadtplänen und leuchtenden Gesichtern, Rucksäcken und praktischen Schuhen.

 

Hier steigen sie ein, die ersten Stadtbesucher, Reisenden, Neugierigen, Staunendenaus der ganzen Welt. Zur Zeit sind es mehr als 30 Millionen Menschen pro Jahr, die Berlin sehen wollen – diese Stadt, die vor 30 Jahren kein Ort war, sondern zwei, und zwei Welten dazu. Beide sehen auf Bildern und Videos von damals ziemlich grau und sehr vergangen aus, aber auch wild, widersprüchlich und faszinierend. Dann fiel die Mauer. Und dann tat Berlin, was es irgendwie schon immer tut, mal langsamer, mal rasend schnell – derzeit wieder Letzteres: sich ändern. Das kann man durchaus auch als Drohung verstehen, zumindest, wenn man seinen Alltag hier zu bewältigen hat. Aber das ist eine andere Geschichte.

Es taucht in Politikerreden auf, bei Berlinale-Eröffnungen und in Reiseprospekten: dieses immer leicht verkitschte Klischee einer Stadt, die „niemals ist und immer wird“. Und wer es gern noch pathetischer hat, spricht von Deutschlands einziger Metropole, vom kleinen New York. Wer so auf Berlin blickt, der tut das meistens von außerhalb, vor allem aus dem Ausland. Die ganze Stadt lockt ihre Besucher als Metamorphoseversprechen.

Ahs und Ohs auf der Museumsinsel

Der Deutsche dagegen steigert sich lieber hinein in Fantastereien über einen versagenden Staat und zieht zum Beweis das Terminvergabesystem im Bürgeramt heran. Oder die Schultoiletten. Alles Wörter, die freundlicherweise niemand in irgendeinen Reiseführer aufgenommen hat.

Der 100er jedenfalls fährt da entlang, wo Berlin besonders schön und ordentlich sein will und manchmal deshalb wirkt wie eine mittelalte Frau nach einer Ampullenserumkur: mit viel finanziellem Aufwand nun ein bisschen glatt, aber interessant ist eigentlich das, was man vom gelebten Leben sieht. Das empfinden auch Touristen so. Natürlich bewundern sie alles, was die Stadt auf Friedrichs einstiger Via Triumphalis versammelt: Ahs und Ohs auf der Museumsinsel, Staunen über die neue James-Simon-Galerie, die sich wie ein vielbeiniges, elegantes Tier an die Spreekante stellt. Dazwischen die Staatsoper, der Lustgarten, in dem die halbe Welt Mittagspause macht und aus Plastikbehältnissen futtert. Gott weiß, was hier los sein wird, wenn erst das Humboldtforum eröffnet, dieses zig Millionen teure Weltkulturdialogwundertütenversprechen in Gestalt eines nachgemachten Hohenzollernschlosses.

Der Bruch ist hier die Attraktion

Aber der ehrliche Städtereisende sieht auch, dass er all das, was hier alt ist, anderswo schon schöner, prächtiger, stimmiger erlebt hat – und unverwundeter. Nach Berlin kommt man nicht, weil hier irgendetwas stimmt. Nach Berlin kommt man auch, um zu stolpern, in einen Strudel zu geraten, überrascht zu werden. Und das wird man.

Die Stadt ist in allem das Gegenteil einer Ewigkeitsschönheit wie Rom. Der Bruch ist hier die Attraktion – und das gilt auf so vielen Ebenen. Da ist ganz schlicht die jüngere Zeitgeschichte, die Katastrophe des Dritten Reiches, des Krieges, der Teilung und des Kalten Krieges. Der Schmerz, der sich in die Stadt eingegraben hat, und der einen Widerwillen produziert hat: Kreativität und Improvisationsgeist, wilde Lebenslust, aber auch Aggression und Rotzigkeit.

Die Stadt, in der Rio Reiser seinen Agitrock erfand

Und dieses Lebensgefühl: wird schon. Es gehört zur Geschichte dieser Stadt, dass sich hier Katastrophen, Krisen und Revolten im Weltformat abgespielt haben, es aber weiterging. Aus dieser Erfahrung wuchs die Berliner Wesensart, den Alltag eher als Versuchsanordnung zu betrachten, was enorme Vorteile hat: Wer so denkt, kann etwas ausprobieren, infrage stellen oder Kunst daraus machen.

Auch popkulturell wird dieses Gefühl schon immer verarbeitet – inzwischen muss man wohl sagen: vernutzt. Aus der Stadt, in der David Bowie in den 70ern „Heroes“ erdachte, in der Rio Reiser seinen Agitrock erfand und von der aus in den späten 80ern Techno seinen Siegeszug antrat, ist der Drehort von „Babylon Berlin“ geworden. Die Titelmelodie aus dem „Moka Efti“ läuft manchmal im Supermarkt. Was nicht heißt, dass man nicht auch vor dem Joghurt-Regal Gänsehaut bekommen kann, weil man sich an die Figuren der Serie erinnert, die nachts durchs petrolblaue Berlin streifen.

Wie unter Eis lag der Platz im Kalten Krieg

Das ist ein bisschen wie mit dem Pariser Platz. Heute sieht er aus wie geleckt: Rundherum ist der quadratische Grundriss eingerahmt von Häusern in Berliner Traufhöhe, US-Botschaft, Französische Botschaft, das Haus Liebermann, das Haus Sommer, die Akademie der Künste, das Adlon. Sie stehen rundherum als Publikum für den Star: das Brandenburger Tor. Selbst die Berlin-Besucher, die davor nur schnell ihre Souvenirfotos schießen und sich von einem riesigen Plüschbär in den Arm nehmen lassen, erkennen das Wahrzeichen als das, was es ist: ein weltweites Symbol dafür, dass Menschen friedlich eine Grenze für immer niederbrechen können.

Aber wer mehr weiß, mag mehr fühlen. Nicht einmal ein halbes Menschenalter ist es her, dass hier keiner gehen durfte, es sei denn, er war NVA-Soldat. Wie unter Eis lag der Platz im Kalten Krieg, nichts stand hier mehr, von jenem Karree, dem Eingangssalon der Stadt aus dem 18. Jahrhundert, wo einmal Giacomo Meyerbeer wohnte und später Max Liebermann, wo ab 1907 im Adlon nicht nur der Kaiser abstieg, sondern auch interessante Leute wie Marlene Dietrich. Das ist lange schon Geschichte. Aber im November 1989 tanzten die Menschen auf der dicken Mauer.

Und wer heute frühmorgens auf den Pariser Platz kommt, wenn es noch leer und still ist und die Sonne die Siegesgöttin Victoria im Streitwagen oben auf dem Tor langsam erglühen lässt, kann ganz in Ruhe zwischen den schweren Säulen des Tores gehen. Von Ost nach West und wieder zurück, so oft er will. Gänsehaut garantiert.

Hier gibt es Orte, an denen sich Geschichte verstehen lässt

Tourismuswirtschaftlich nennt sich die ganze Chose „Dark Tourism“, und davon hat Berlin eine Menge. Einiges davon ist einfach nur wie eine Boulevardzeitung zum Herumspazieren – wer eine „Third Reich Tour“ bucht, der wird einen Führer finden, der ihm an der Ecke Ebert-/Voßstraße versichert, hier irgendwo habe man den Unterkiefer Adolf Hitlers gefunden.

Dabei hat Berlin so viel bessere Orte, an denen sich Geschichte verstehen lässt: der Ort der Information unter dem Holocaust-Mahnmal, die Ausstellung zum Ort der Täter in „Topographie des Terrors“ nebenan, eine Tour durch Bunkerreste mit dem Verein Berliner Unterwelten. Tausende Schulklassen stapfen Tag für Tag auch durchs etwas skurrile Haus am Checkpoint Charlie, jenes private Mauermuseum mit seiner wilden Sammlung aus Totenmasken und Fluchtgerät. Dabei erzählt die Mauergedenkstätte an der Bernauer Straße die authentischeren Geschichten.

Authentizität ist in Berlins Mitte sowieso ein schwieriger Begriff. Die Leerstellen, die der Krieg und die Teilung rissen, luden zu Was-wäre-gewesen-wenn-Projektionen und -Fantasien ein. Überhaupt will ständig irgendwer entweder an große Zeiten anknüpfen oder sich von ihnen abwenden. Ein Beispiel dafür ist der Potsdamer Platz, einst verkehrsreichster Ort Europas und später triste Grenzlandödnis.

Nach dem Fall der Mauer wurde das Areal unter vier Großinvestoren aufgeteilt – und der größte davon, die damalige Daimler-Chrysler AG, wollte viel: ein neues Stück Stadt bauen, aus einem Guss, milliardenschwer, irgendwas zwischen Urban Entertainment Center und europäischem Stadtkern. Eine Simulation von Stadt, sagten Kritiker, wie eine Scheibe, von deren Rand man hinunterfällt in die Wirklichkeit. Was sie nicht sagten: was die Alternative gewesen wäre. Damals.

Die Nachwendeeuphorie war einem Mühsalsberg gewichen

Man kann sich das heute nicht mehr sehr gut vorstellen, da die Flächen knapp werden, die Mietpreise explodieren und manch schicke Straße im Prenzlauer Berg von mehr Expats aus den USA, Israel oder Skandinavien bewohnt wird als von Schwaben oder gar alteingesessenen Berlinern. Aber Mitte der 90er Jahre steckte Berlin in einer kleinen Depression.

Die Nachwendeeuphorie war einem Mühsalsberg gewichen: Die Stadt ächzte unter ihren Doppelstrukturen aus der Vorwendezeit einerseits und ihrer Strukturschwäche andererseits. Statt zu wachsen wie vorhergesagt, schrumpfte die Stadt. Mietwohnungen wurden einem hinterhergeworfen – zur Unterschrift unter den Vertrag bekam man als Mieter gleich noch eine BVG-Jahreskarte gratis, einen neuen Herd oder die ersten drei Monate mietfrei.

Man sprach von Rückbau und fürchtete Verwahrlosung. Es birgt eine gewisse Komik, dass jener Lehrstuhl für Stadtsoziologie der Humboldt-Universität, der heute eine der Keimzellen für Enteignungsideen ist, im Jahr 1999 eine „Verslumung“ der Innenstadtbezirke vorausgesagt hat – unter anderem für Kreuzberg und Friedrichshain, inzwischen Orte galoppierender Gentrifizierung.

Über Neukölln sprach damals sowieso keiner, der Stadtteil wurde als bereits abgehängt betrachtet. Auch er gehört zu den angesagten Vierteln der Hauptstadt, in denen die 50 000 Zuzügler pro Jahr leben wollen. Die Stadt wächst und wächst. Menschen aus allen Ländern kommen her, siedeln sich an.

Nirgends sind die Mietpreise so stark gestiegen wie hier

Wie findet man das als Berliner? Man freut sich und ächzt gleichzeitig darunter. Nirgends sind die Mietpreise so stark gestiegen wie in Berlin, gleichzeitig hält die Infrastruktur der Stadt mit dem Wachstum nicht mit. In den ganz normalen Wohnbezirken fehlt es an allem: bezahlbaren Wohnungen, Schulen, Kitas, an Bussen, Bahnen, Fahrradwegen.

Nur an Besuchern, an denen fehlt es nicht. Sie durchstreifen die Trendkieze auf der Suche nach dem authentischen Berlin-Gefühl. Was das ist? Der eine spürt es bei Street Food Thursday in der Markthalle Neun in Kreuzberg, der andere in der Schlange vor dem Berghain oder im Parkett der Staatsoper. So oder so: Es ändert sich – wie die Stadt. Manchmal so schnell, dass man nicht mitkommt.