Petra Kucher-Sturm berät Studierende mit psychischen Problemen. Foto: Christoph Duepper

Die Folgen der Coronapandemie bekommt die Psychotherapeutin des Studierendenwerks mit Verzögerung zu spüren. Vielen Studierenden macht die Einsamkeit zu schaffen – und die Depressionen haben zugenommen.

Stuttgart - Noch beim ersten Lockdown im Frühjahr 2020 hat Petra Kucher-Sturm bei vielen Studierenden Erleichterung festgestellt. Erst mal. „Das hat sich im zweiten Lockdown total gewandelt“, so die Psychotherapeutin des Studierendenwerks Stuttgart. Da hätten sich 80 Prozent der Probleme durch Corona verschärft. Und es habe auch eine Verschiebung bei den Themen gegeben, die die Studierenden zu Kucher-Sturm führten. Hinzugekommen seien die Folgen von Einsamkeit und Kontaktmangel.

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Das Beratungszimmer im Erdgeschoss eines Studierendenheims an der Rosenbergstraße im Stuttgarter Westen ist etwas in die Jahre gekommen. Aber den Besucher erwartet ein bequemer Stressless-Sessel, auf dem Glastischchen steht eine Packung Kleenextücher. Der Luftreiniger läuft. Und das Gegenüber hört sehr aufmerksam zu. Wer zum Beratungsgespräch mit der Psychotherapeutin will, muss vorab auf einer Liste ankreuzen, welche Probleme ihn oder sie drücken und in welcher Intensität. Auf Top Eins unter 25 Beschwerden: Lern- und Arbeitsschwierigkeiten, Konzentration, Motivation.

Fehlt es nur an der Disziplin, oder steckt eine Depression dahinter?

Im Gespräch nimmt Kucher-Sturm auch die Zwischentöne genau wahr, findet heraus, ob es nur an mangelnder Disziplin oder Arbeitsorganisation liegt oder andere Ursachen hat. „Hinter der Aussage ‚Ich bin nicht mehr motiviert‘ steckt manchmal auch eine Depression“, berichtet sie. „Die Depressionen haben zugenommen – in den letzten Jahren sogar deutlich.“

Seit 35 Jahren macht Kucher-Sturm nun diesen Job. „Am Anfang waren die Hauptthemen Prüfungsangst sowie Lern- und Leistungsstörungen. Dieser Bereich ist geblieben.“ Aber in der Zwischenzeit sei die Depression genauso stark. Zu den Symptomen gehörten Antriebslosigkeit, Selbstwertprobleme. „Wenn ich depressiv bin, traue ich mir nichts mehr zu, fühle mich schneller gestresst“, erklärt sie. „Das ist keine Faulheit, sondern das geht dann einfach nicht.“ Um aus so einem Loch herauszukommen, brauche es viel Energie. Das sei für manche allein schwer zu schaffen. „Manchmal helfen nur noch der Psychiater und Medikamente“, sagt Kucher-Sturm. Zu den Klassikern gehörten Aussagen wie diese: „Ich steck fest, ich komm bei meiner Masterarbeit nicht weiter.“ Viele Studierende suchten das Problem erst einmal bei sich selber, berichtet Kucher-Sturm. „Die haben das Gefühl, bei ihnen stimmt was nicht.“ Aber manchmal liege es auch an der Aufgabe. Oder daran, dass die Studierenden gar nicht fertig werden wollten, weil sie die Zeit danach scheuten.

Therapeutin rät, sich Dinge einzubauen, für die es sich lohnt aufzustehen

Auch das Aufschiebeverhalten gehöre zu den Problemen, die sich durch Corona verschärft hätten. Gar nicht erst anfangen zu lernen sei typisch. Dahinter könne die Angst vor dem Scheitern stehen, aber auch ein unrealistisches Arbeitspensum oder eine fehlende Alltags- und Lernstruktur. „Hier helfen Rituale. Das ist wie beim Zähneputzen“, sagt Kucher-Sturm. Sie empfiehlt, „sich Dinge einzubauen, für die es sich lohnt aufzustehen“. Auch die Kurse zum effektiveren Lernen seitens der Hochschulen seien sehr hilfreich. Doch auch die Ansprüche der Studierenden hätten sich stark verändert. „Heute sagen Studierende: Das Studium macht mir zum Teil keinen Spaß.“ Denen sage sie dann: „Nicht alles macht Spaß, das ist ganz normal, nicht verkehrt“, so die Therapeutin.

Während der Lockdown-Zeit konnten Petra Kucher-Sturm und ihr Mann Rainer Sturm, die sich 1,8 Stellen teilen, nur noch digital beraten. „Das hat besser funktioniert, als ich dachte“, sagt die Therapeutin. Aber, trotzdem: „Es macht einen Riesenunterschied, ob man sich gegenübersitzt oder nur am Bildschirm sieht oder nur telefoniert.“ Besonders relevant sei dies bei Suizidgefahr. Vor Ort könne sie den Studierenden „an die Hand nehmen und zum nächsten Psychiater bringen“. Das sei bei einem Video-Call nicht möglich. Doch eine Beratung aus der Ferne wirke sich auch anderweitig aus. So sei man auf die Technik angewiesen. Und manche Studierenden, die in einer WG mit dünnen Wänden wohnten, wollten nicht, dass alle mithören.

Manche Klienten holen sich nach ein paar Monaten eine Auffrischung

Inzwischen biete man beides an, digitale oder persönliche Beratung. Doch die meisten kämen lieber persönlich vorbei. Das klappt aber nicht immer sofort. Ein bis zwei Wochen Geduld sei meist schon nötig. In der dunklen Jahreszeit, im Januar, Februar, dauere die Wartezeit auch mal vier bis fünf Wochen. Meist kämen die Klienten nach ein bis zwei Gesprächsterminen wieder klar. Manche holten sich auch nach ein paar Monaten wieder eine Auffrischung, so Kucher-Sturm. Sie empfiehlt, „lieber mal zur Beratung zu gehen, als zu lange zu warten, bis man zum Therapiefall wird“.

Beratung in Zahlen

Beratungsstelle
Die psychotherapeutische Beratungsstelle des Studierendenwerks Stuttgart ist für 60 000 Studierende von 15 Hochschulen zuständig. Die Beratung erfolgt kostenlos und vertraulich.

Beratungsgespräche
Die Zahl der Beratungsgespräche betrug im Jahr 2019 insgesamt 1693, im Jahr 2020 sank die Zahl leicht auf 1646. Das Studierendenwerk führt das auf den ersten Lockdown im Frühjahr zurück. ja