Wenn Kindern zu Opfern werden, sind die Täter oft selbst noch jung. Foto: Jan Woitas/dpa-Zentralbild/dpa

Das Projekt Stellwerk arbeitet mit jungen Tätern, die sexuelle Grenzen überschreiten – das kommt nicht bei allen gut an, ist jedoch extrem wichtig.

Per Whatsapp bekommt der 14-jährige Julian (sämtliche Namen wurden von der Redaktion geändert) von seinem Kumpel Kinderpornos geschickt. Ohne darüber nachzudenken, leitet er sie weiter. Ein paar Wochen später steht die Polizei vor der Tür und durchsucht sämtliche Computer im Haus. Sein Freund Leon hat derweil selbst richtig Ärger am Hals, weil er schon mehrmals das Nachbarsmädchen am Hintern begrapscht und zum Sex aufgefordert hat.

 

Wenn Kinder und Jugendliche nicht die Opfer von sexueller Gewalt sind, sondern die Täter, rückt die Fachstelle Stellwerk von der evangelischen Jugendhilfe im Kreis Ludwigsburg auf den Plan. Seit 15 Jahren setzen sich deren Vertreter intensiv mit den jugendlichen Tätern auseinander, damit diese nicht wieder zu Tätern werden. Und der Bedarf steigt.

Wolfgang Kapp und Eva Teufel sehen den steigenden Beratungsbedarf. Doch das Personal fehlt. Foto: Kathrin Klette

Seit 15 Jahren arbeiten die Berater von Stellwerk mit jungen Menschen zusammen, die sich übergriffig oder zumindest grenzüberschreitend gegenüber anderen verhalten haben. Nicht unbedingt ein Jubiläum zum Feiern.

Trotzdem sieht Eva Teufel, Vorstandsvorsitzende der Jugendhilfe, in dem langjährigen Bestehen des Projekts eine gute und wichtige Sache. Denn die Zahl der jugendlichen Täter und damit der Opfer nimmt zu. Diese Täter in die richtigen Bahnen zu lenken – fast ausschließlich sind die Betreffenden männlich –, ist nach ihrer Überzeugung „der beste Opferschutz, den es gibt“.

„Du bist für mich kein Mensch mehr“Nico soll in die Rolle seines Opfers schlüpfen und einen Brief an sich selbst verfassen. Es ist einer von mehreren Schlüsselmomenten in der Arbeit von Stellwerk, die Wolfgang Kapp besonders im Gedächtnis geblieben sind.

„2023 und 2024 hatten wir jeweils 62 Jugendliche in der Beratung, dieses Jahr sind es allein schon 64“, erklärt der Leiter der Fachstelle Stellwerk, Wolfgang Kapp. Nach seiner Erfahrung liegt das nur zum Teil daran, dass die Menschen inzwischen sensibler dafür geworden sind und frühzeitig reagieren. „Der Umgang mit den Grenzen anderer ist sichtbar ein anderer geworden.“

Die Besucher von Stellwerk sind zwischen zwölf und 18 Jahre alt – und zum größten Teil freiwillig in der Beratung, weil sie in der Schule, zu Hause oder im Freundeskreis durch ihr Verhalten auffällig geworden sind. Nur wenige sind bereits so weit gegangen – oder alt genug –, dass sie sich vor Gericht verantworten mussten und die Beratung als Auflage erhalten.

Von Nacktfotos bis hin zu Übergriffen

Die Gründe für ihr Kommen sind unterschiedlich: Sexuelle Beleidigungen oder Verleumdungen wie „Die macht’s doch mit jedem“ gehören noch zu den „harmloseren“ Vorkommnissen. Ein Junge küsst Mädchen gegen ihren Willen, ein anderer geht beim Kuscheln mit der ersten Freundin zu weit und zeigt Nacktfotos von ihr unter seinen Kumpels herum. Im äußersten Fall ist es tatsächlich bereits zu Übergriffen gekommen. Sogar Jungen, die an einer Gruppenvergewaltigung beteiligt waren, sind bei Stellwerk in der Beratung.

„Mir fehlt etwas“ – John hat zum ersten Mal anerkannt, dass etwas ganz und gar nicht rund läuft bei ihm. „Das war ein wichtiger Moment, an dem wir ansetzen konnten“, erinnert sich Wolfgang Kapp.

Die Verbreitung von kinderpornographischen Inhalten kommt erschreckend häufig vor. Dabei hätten viele der Betreffenden selbst gar keine pädophilen Neigungen, berichtet Wolfgang Kapp, sie dächten über ihr Handeln einfach nicht nach. Sie sehen Bilder im Internet und leiten sie achtlos weiter.

Oft geht es um Machtspiele und Gruppendruck

Doch wie setzt man bei so einem schwierigen Thema an? Ein ganz wichtiger Aspekt ist es laut Kapp, Empathie für die Opfer zu entwickeln und ihre Grenzen zu erkennen und zu respektieren. Aber auch, die eigenen Stärken anzuerkennen. „Bei sexuellen Themen geht es oft um Machtspiele und Gruppendruck“, erklärt er. „Wir merken, dass der Selbstwert der jungen Menschen sinkt und die Belastungen steigen, und das wollen sie kompensieren.“ Wer diesem Teufelskreis entkommen kann, der gehe auch mit seiner Umwelt ganz anders um.

„Ich habe keine Heimat“ Georg bittet im Laufe der Beratung um Hilfe bei der Suche nach einer eigenen Wohnung. Der Grund: „Wenn ich in meinem alten Umfeld bleibe, werde ich wieder rückfällig.“  

Die Beratung endet erst, wenn alle Beteiligten das Gefühl haben, dass es an der Zeit ist. Nur ganz wenige brechen das Programm vorzeitig ab. „Und wenn wir von uns aus feststellen, dass die Beratung bei uns nicht ausreicht, verweisen wir diejenigen an andere Fachstellen weiter“, so Eva Teufel. Zum Beispiel, wenn bei einem Jugendlichen wirklich pädophile Neigungen erkennbar sind. Oder wenn die Täter so jung sind, dass man davon ausgehen muss, dass sie selbst bereits Opfer waren.

Doch selbst bei denen, die das Programm von Anfang bis Ende mitgemacht haben, liegt die Zukunft für gewöhnlich im Ungewissen. Eine messbare Erfolgsquote gibt es nicht. Ob die Teilnehmer das Gelernte dauerhaft umsetzen oder doch rückfällig werden, erfahren die Berater von Stellwerk nicht – allenfalls durch Zufall.

Trotzdem sind die Berater von der Bedeutung des Projekts überzeugt – und nicht nur sie. Manche Jugendliche melden sich später noch einmal wieder, weil sie ihre Erfolge mit den Beratern teilen möchten, „die kommen dann zum Beispiel mit ihrer Freundin zu uns, das ist dann schön zu sehen“, sagt Wolfgang Kapp. Andere kommen wieder, weil sie merken: Sie sind noch nicht so weit und brauchen mehr Hilfe, „auch das werten wir als Erfolg“.

„Ich brauche mehr“Alexander hat so viele Baustellen, dass er von sich aus irgendwann um zusätzliche Hilfe bittet. Er wird an einen Psychologen weitervermittelt.

Die steigenden Anfragen nach Beratungen sind eine – wenn auch besorgniserregende – Bestätigung ihrer Arbeit. Jedoch: Der ersehnte Ausbau des Angebots, unter anderem durch Gruppensitzungen, „ist personell einfach nicht drin“, bedauert Eva Teufel.

Die Fördergelder des Landkreises bleiben immerhin unangetastet – trotz des kreisweiten Sparpakets. Die erhoffte Erhöhung gab es allerdings nicht. Auch über Spenden lasse sich nur bedingt etwas erreichen, so Eva Teufel. „Wenn man um Spenden für Opferhilfe bittet, sind die Menschen immer offen. Aber Täterarbeit? Das ist nicht so beliebt.“