Benjamin Biolay Foto: Claude Gassian

Der Franzose Benjamin Biolay wird nicht gerne mit Serge Gainsbourg verglichen und gilt den einen als Erneuerer, den anderen als Zertrümmerer des Chansons.

Hamburg - Nur weg, schnell abtauchen! Die Reeperbahn ist kein Ort fürs trübsinnige Gemüt. Zwei riesige aufgeklappte Betonplatten führen hinab ins Kaninchenloch: Nach zehn Jahren Pause hat kürzlich der legendäre Mojo-Club wieder geöffnet, in einer Reinkarnation im Untergrund der lärmenden Schlimmstraße, und dort wartet nun der ideale Verbündete für milde Melancholiker und Wochenend-Schwermütler: Benjamin Biolay. Der Mann, der ein ganzes Album „Negatif“ nennt, unter Romantik Zeilen wie „Ich habe die Augen voller Blut, das ist ansteckend, geh weg“ versteht und ein schönes Lied mit dem Titel „Le bonheur mon cul“ geschrieben hat. Das Glück? Mein Arsch!

In seiner Heimat Frankreich ist Biolay ein Popstar, Tausende kommen zu seinen Konzerten. In Hamburg startet er an diesem Abend seine erste Deutschlandtour, obwohl sein auch hierzulande gefeiertes Debütalbum schon zwölf Jahre alt ist: „Rose Kennedy“, um das herum Musik-PR und Medien eine ganze neue Szene klöppelten: Nouvelle Chanson, und Biolay als ihr Posterboy mit den verschatteten Augen und dem Alain-Delon-je-ne-sais-quoi, der kurzzeitig sogar zum Schwiegersohn Catherine Deneuves taugte. Seitdem hat er sieben Alben nachgelegt, gerade ist er 40 geworden, älter sieht er aus, backiger, die Augen immer noch mysteriös umflort. Und bringt die generelle Problematik gleich in seinem ersten Lied, „Profite“ vom aktuellen Album „Vengeance“, auf den Punkt: Das Leben – merde! – ist zu kurz.

Traurig sein und gleichzeitig froh – padam, padam, pam, pam!

Nur zwei, drei Lieder braucht er, dann hat Biolay das unterirdische Mojo mit seinem Raunegesang zu einer heimlichen Höhle der leicht bis mittelschwer Verwundeten, des süßen Weltschmerzes gemacht. So lässig er über die Bühne strawanzt, in dunkler Jeansjacke und schwarzen Hosen, so nonchalant schlendern seine Lieder von Alltagskram wie der traurigen Poesie von Post-it-Notizen am Kühlschrank zum ganz großen Pathos des von Substanzen Geschundenen und der Welt Verschmähten. Traurig sein und gleichzeitig froh – padam, padam, pam, pam!

Das Publikum rast komplett unhanseatisch, und Biolay – „dankedankedankedanke!“ – fasst sich ans Herz. Die Rührung! Vielleicht schaut er aber auch nur nach, ob seine Zigaretten noch da sind. Natürlich raucht er auf der Bühne, natürlich trinkt er Rotwein, natürlich wirft er charmant Handküsse. Die ganze Klaviatur der Franzosität rauf und runter.

Gut möglich, dass er sich darüber totlacht, wenn wieder alle drauf reinfallen, auf die billigen Klischees. Nationalheiligtum will er keines sein, erst recht kein neuer Serge Gainsbourg, wie früher häufig insistiert wurde, der das kränkelnde Chanson in die Gegenwart hinüberrettete, indem er auch Songs für Juliette Gréco und Françoise Hardy und Neuchansonkollegen wie Keren Ann schrieb und gar dem 83-jährigen Jazz-Crooner Henri Salvador zum Comeback verhalf. Auch für Präsidentinnengattin Carla Bruni komponierte Biolay. Ihren Mann Nicolas Sarkozy hasst er übrigens von ganzem Herzen – Biolay ist überzeugter Sozialist. Ob deshalb ein kleiner roter Löwe auf seiner Gitarre klebt? Beim Wort Chanson jedenfalls würde ihm regelrecht übel, sagt Biolay gern, und erst recht gebe es keine Tradition, die er bewahren wolle. Eher zerhauen, wenn es nach ihm ginge.

In Hamburg kommt Biolay blendend ohne Unterstützung aus

Leider hat er zu diesem Zweck in Hamburg keinen Schlagzeuger dabei, flankiert wird er lediglich von einem Bassisten (der auch Gitarre spielt, wenn Biolay das nicht selbst erledigt) und einem Keyboarder samt vermaledeitem Drumcomputer. Der fiepst manchmal ein bisschen pubertär dazwischen, wird aber leider benötigt, um die Biolay’sche Chansondemolierungsmaschine anzutreiben.

Mit Rockelementen und Hip-Hop-Beats rückt er dem klebrigen Etikett neuerdings zu Leibe. Und mit aus französischer Volksseele wohl als Dreistigkeiten empfundenen Einlagen – wie beispielsweise einem eingeflochtenen Smiths-Zitat („’eaven knows I’m miserable now“) – singt Biolay, und das miesepetrigste Herz muss sofort dahinschmelzen. Später covert er ähnlich entzückend noch „Out of Time“ von Blur. Dass Biolay in musikalischer Hinsicht ausgesprochen anglophil ist, bewies er spätestens auf seinem jüngsten Album, auf dem er beispielsweise Carl Barat von den Libertines zum Duett bat, ebenso Vanessa Paradis und den Nachwuchs-Rapper Orelsan.

In Hamburg kommt er blendend ohne Unterstützung aus, rappen kann er selbst, zumindest so ungefähr: „A l’origine“, seine knallwütende Anklage gegen so ziemlich alles. „Ich liebe Hamburg“, sagt Biolay zum Abschied, „das ist richtig“, dann Handkuss werfend, Rotwein trinkend, rauchend ab. Merci, Monsieur. Beseelt klettert man aus der Höhle zurück in die schlimme Welt und schafft es fast ohne Depressionskrampf über die ganze Reeperbahn.

Benjamin Biolay tritt an diesem Mittwoch im Frankfurter Hof in Mainz auf.